Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
»zusammen losrollen und erst unterwegs Abstand gewinnen können?«
»Die Wagen waren identisch, beide unbeladen, beide erst kürzlich überholt. Ich glaube nicht, daß ein solcher Abstand entstanden wäre, wenn sie zusammen losgefahren wären.«
»Schon gar nicht«, fügte Mackintosh hinzu, »wenn in dem hinteren Wagen mehrere Personen waren und im vorderen nur eine. Denn darauf läuft es für meine Begriffe hinaus: jemand floh, jemand verfolgte ihn. Mehrere Männer haben das Dorf abgesucht, heißt es. Ich würde wetten, daß sie im zweiten Wagen waren … Haben Sie was gefunden, Appleby?«
Der Bahningenieur unterbrach sie. »Da fällt mir noch etwas ein. In dem vorderen war ein Fahrrad. Offenbar hat es jemand hinausgeworfen, gleich oben zu Anfang. Das ist das einzige, was wir gefunden haben. Das und daß jemand vor kurzem ein Lagerfeuer dort oben hatte – mitten auf den Gleisen, direkt im Bahnhof.«
»Merkwürdig.« Der Lichtschein huschte immer noch hin und her; Applebys gleichmütige Stimme kam aus dem Inneren. »Und was den Wagen angeht – das Mädchen war hier.«
»Wie um alles in der Welt …«
»An einigen Splittern am Boden hängen Fäden von blauem Wollstoff. Die dürften von ihrem Kostüm stammen. Keine wissenschaftliche Gewißheit. Aber unter den gegebenen Umständen Beleg genug. Die Frage ist, an welchem Ende fangen wir an?« Appleby kam wieder aus dem Waggon geklettert.
Mackintosh trat einen Schritt zurück und blickte zum Himmel. »An beiden. Wir trennen uns. Sie hören sich im Dorf um und finden heraus, wie es weiterging. Ich nehme die Landkarte und die Bahnstrecke und kümmere mich um das, was bis hierher geschah. Sehe mich in der ganzen Gegend um den Bahnhof um. Wenigstens scheint der Mond.« Er machte eine ungeduldige Bewegung. »Aber bisher haben wir nur das Mädchen. Zu Rodney Orchard ist es ein weiter Weg, ob auf Ihrer oder auf meiner Route.«
»Zweifellos. Aber um die direkteren Routen kümmern sich schon genug Leute. Ich bin überzeugt, daß der Umweg über das Mädchen eher zum Ziel führt. Es steht ja zu vermuten, daß sie weiß , wo er ist – und wir haben niemand anderen, von dem wir das sagen können.« Appleby wandte sich an den Bahningenieur. »Wie sieht es mit Uhrzeiten aus?«
»Als der Zehn-Uhr-vierzig heute morgen durchkam, war noch alles in Ordnung. Der Führer des nächsten Zuges, Ein-Uhr-sieben, meldete den Vorfall.«
»Gab es Ankünfte oder Abfahrten an dem kleinen Bahnhof hier?«
»Praktisch keine. Ein Reisender stieg aus dem Zehn-Uhr-vierzig aus. Zum Sechs-Uhr-fünfzehn war er wieder hier und fuhr zurück – ein paar Minuten vor Ihrer Ankunft. Und dieser Reisende ist uns gut bekannt – genauer gesagt ist er sogar eine Art Einrichtung dieser Strecke. Harry McQueen, der blinde Fiedler. Ich habe schon telefonisch nachgehört, aber keiner wußte, wo er ausgestiegen ist.«
»Im Dorf ist er in der Zeit, die er hier war, nicht gewesen«, sagte Mackintosh.
»Er könnte einfach hiergeblieben sein. Manchmal sitzt er stundenlang auf einer Bank oder in einem Schuppen und wartet auf den nächsten Zug.«
Appleby nickte. »Wir setzen Harry McQueen zu Rodney Orchard und Sheila Grant auf die Liste. Die Liste der Leute, nach denen jeder Polizist in Schottland Ausschau hält. Dieser Fiedler hat Stunden hier verbracht, er war nicht im Dorf, keiner hat ihn gesehen. Das hört sich gut an.«
»Ein Dichter ist er auch«, fügte Mackintosh hinzu. » Gedanken eines Greises aus den Grampians oder so ähnlich. Jedes Jahr wenn ich hier hochfahre, kaufe ich ihm ein Bändchen ab, seit ich vierzehn bin. Nie reingesehen.«
»Man könnte denken, es wird ein Sängerwettstreit.« Appleby lachte bitter. »Und ich kenne einen trefflichen Professor, der gern versichert, daß allein die Dichtkunst uns noch retten kann. Es stimmt ja. Nur ein falscher Swinburnevers bringt uns noch weiter – etwas über einen felsigen Sporn und das Herz einer Bucht, das ist der einzige Wegweiser, den wir zum untreuen Orchard haben. Diese Leute sind uns verdammt viele Schritte voraus – und es muß um etwas so Wichtiges gehen, daß sie den armen Ploss dafür umgebracht haben und jetzt eine Entführung riskieren, nur um zu verhindern, daß etwas bekannt wird …« Mit raschen Schritten ging Appleby den Bahnsteig hinunter, Mackintosh ihm zur Seite; der Ingenieur hatte sich zurückgezogen. »Sie haben recht, wir trennen uns. Aber ich fürchte, wir haben das Nachsehen.«
»Diesmal.«
»Diesmal. Es sei denn …«
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