Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
Appleby stutzte. »Mackintosh, haben Sie eigentlich überlegt, warum Orchard sich so plötzlich aus dem Staub gemacht hat?«
»Hielt es in der Stadt nicht mehr aus. Konnte keine Splittergräben mit Enten drin mehr sehen. Keine Sandsäcke, aus denen Gras wächst. Erholung auf dem Lande, bis der Zauber losgeht.«
»Denkbar.«
»Oder Neäras Haar. Verfangen in. Ein Mädchen, das, aus welchen Gründen auch immer, das Privatleben vorzieht. Oder sonst eine kleine Schwäche.«
»Denkbar.«
»Oder viel zu tun. Selbst Chemiker lösen, glaube ich, den schwierigen Teil ihrer Arbeit durch Nabelschau. Und er hatte eine Aktentasche mit.«
»Genau das. Das ist unsere Chance. Mir müssen hoffen, daß diese Tasche leer war und immer noch leer ist. Diese Leute sind uns voraus. Die Zeit arbeitet gegen uns. Aber stellen Sie sich vor, die Umstände zwingen sie zu warten . Man kann einem anderen nicht seine Arbeit abjagen, wenn er diese Arbeit noch gar nicht getan hat, nicht wahr? Orchard hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen, weil er einer Sache auf der Spur ist – und die anderen beobachten ihn und warten . Beten Sie, daß es so ist.« Appleby schwieg einen Moment lang. »Wenn das Mädchen uns doch wenigstens …« Er blieb stehen. »Was bin ich für ein Dummkopf!« sagte er ruhig. »Ich habe überall gesucht, nur nicht an der wahrscheinlichsten Stelle.« Er machte kehrt und lief den Bahnsteig entlang zurück.
Als Mackintosh ihn einholte, war er unten auf den Gleisen und suchte mit seiner Taschenlampe die Seitenwand des ersten Wagens ab. Der Lichtkegel fuhr über die offene Tür, dann horizontal nach rechts und nach links. »Das Mädchen«, sagte Appleby, »soll ja Verstand haben. Und eine Hoffnung ist es immerhin. Hundertmal hat man es gesehen. Als Kind wollte man … hier.« An der Seite des Wagens hatte die Lampe einen kleinen Metallrahmen ausgemacht, in dem ein vergilbtes quadratisches Stück Pappe steckte. »Eine Art Logbuch über die Fahrten des Waggons, nehme ich an. Oder Bestimmungsort und Ladung? Meistens lassen sie es einfach stecken und schreiben etwas mit Kreide an die Wand …« Er hob aufgeregt die Stimme. » Bitte wenden! So etwas schreibt doch kein Eisenbahner!« Schon zog er die Karte aus dem Halter. Ein kurzes Schweigen. Und dann Applebys leise Stimme im Dunkel.
Wo am westlichsten Gipfel ein felsiger Sporn ragt,
Einem Falken gleich hoch überm Herzen der Bucht,
Nach dreimal sieben Meilen ein einsamer Born labt,
Eine Meile gen Morgen den Garten man sucht.
Wieder Stille, dann sagte Appleby noch leiser: »Unterzeichnet SG, in sichtlicher Eile geschrieben. Verstand, Mackintosh. Sie hat ihre Arbeit getan. Und ich hätte meinen Teil beinahe verdorben.«
»Wir finden dieses Mädchen.«
»Auf jeden Fall.« Appleby kam wieder auf den Bahnsteig geklettert und gab ihm die Karte zu lesen. »Was meinen Sie, wo stehen wir jetzt?«
»Wir dürften jetzt alles wissen, was das Mädchen wußte, als die anderen es für notwendig hielten, sie aus dem Verkehr zu ziehen. Das Mädchen selbst weiß inzwischen wahrscheinlich mehr. Sie war ihre Gefangene und ist ihnen entkommen. Aus der Perspektive der Spionageabwehr gesprochen, könnte ihr Leben in diesem Augenblick so ziemlich das wertvollste im ganzen Land sein. Nicht gerade eine Lage, um die man sie beneiden würde.« Mackintosh starrte auf das schmutzige Stück Pappe und runzelte die Stirn. »Der Clou steckt hier drin, der Hinweis, mit dem wir Orchard finden – wir müssen nur lernen, ihn zu lesen.« Er hob die Stimme. »Wenn wir es auch nur auf fünf Meilen präzise bestimmen können – auf zehn –, dann mobilisieren wir ein ganzes Bataillon. Wenn die Sonne aufgeht, veranstalten wir auf diesem Moor eine Treibjagd, der kein Kaninchen entgeht.«
»Das klingt großartig, mein Junge.« Applebys Stimme war nachsichtig. »Aber können wir den Clou denn deuten? Für die anderen bedeutet dieser Vers etwas – etwas ganz Bestimmtes. Sie sind der Topograph bei dieser Expedition. Können Sie die Botschaft lesen?«
Mackintosh nickte und studierte noch einmal den Vers. Dann blickte er einen Sekundenbruchteil lang empor zum leeren Abendhimmel. Es war, stellte Appleby sich vor, ein Augenblick, in dem Denken nicht mehr weiterhalf: man mußte warten, daß die Inspiration kam.
»Es ist der Windvogel«, sagte Mackintosh.
Kapitel 18
Sintflut in Dabdab
Dunkel breitete sich über den See; das Motorboot zog eine Schaumspur hinter sich her, die zurückreichte bis nach Castle Troy,
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