Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
Auffahrt bog.
Ein schweres Tor, ein solides Torhaus, eine lange, perfekt gepflegte Allee … sie hatte eine gewisse Vorstellung, was kommen würde. Aber trotzdem riß sie hinter der nächsten Biegung die Augen auf. Der Wagen kam ins Freie, gepflegter Rasen, ein Park flogen vorbei, ein Burggraben blitzte, einen Moment lang herrschte Dunkelheit, ein hohles Poltern unter den Rädern, und dann fand sie sich in einem großen Innenhof wieder – uralt, turmhoch, grau. Es war, als sei sie in tiefste Vergangenheit getaucht, tiefer als selbst Harry McQueen es sich vorstellen konnte.
Ein Adelssitz, zweifellos. Dies Schloß hat eine angenehme Lage; gastlich umfängt …
Sie erschrak, als die Windschutzscheibe ihr gefährlich nahe kam; der Fahrer hatte so abrupt gebremst, daß der Wagen gehalten hatte wie ein Aufzug. »Eine Party«, brummte der junge Mann. Er streckte die Hand aus und stellte den Motor ab. »Offenbar geben sie eine Party. Aber sei’s drum. Wir finden meinen Onkel schon.« Er lächelte sie an, sprang nach draußen und sprintete um den Wagen, um ihr die Tür zu öffnen.
Und ob hier eine Party war: Ein halbes Dutzend Automobile war im Innenhof versammelt – große, teure Wagen mit Wappen auf den Türen und hie und da einem livrierten Chauffeur. Gerettet, dachte Sheila. Und der Übergang kam so plötzlich, daß sie es kaum glauben konnte – als läse man Robert Louis Stevenson und dann ein Heft von Country Life oder als käme man direkt vom Schlachtfeld nach Piccadilly … Sie gingen einen Kiesweg entlang. »Kommen Sie«, sagte der junge Mann. »Nur nicht gezaudert. Ein paar sind ja anscheinend schon im Aufbruch. Wie heißen Sie?«
»Grant – Sheila Grant.«
Sie gingen eine Treppe hinauf – der junge Mann verbeugte sich im Vorbeigehen vor einer alten Dame und einem alten Gentleman, die eben herunterkamen. Vage vertraute Gesichter. Diese Art von Party war es; wer regelmäßig die Illustrierten studierte, hätte sich halb zu Hause gefühlt. Diener eilten vorüber. Ein älterer Herr verabschiedete sich eben von – ja, von Willa Maine, der Schauspielerin, in Begleitung eines farblosen Mannes mit Backenbart. Und hinter ihm ein Saal mit offener Balkendecke, das Gaslicht schon entzündet, mit Trophäen und Ritterrüstungen, Raeburns und Wilkies in Gruppen an den Wänden … Der junge Mann faßte sie am Arm. »Onkel« – er sprach leise und hastig –, »ich habe etwas sehr Wichtiges. Die junge Dame hier ist auf Spione gestoßen – deutsche Agenten –, und du solltest ihr mit der Polizei behilflich sein.«
Der ältere Herr sah sich zuerst im Saal um, dann betrachtete er Sheila mit höflicher Überraschung. »Agenten!« sagte er. »Das klingt wichtiger als die Verabschiedungen, die noch zu machen wären.« Er lächelte, weltmännisch und skeptisch. »Sollten wir uns in die Bibliothek zurückziehen? Wie wäre es mit einer Tasse Tee? Mein lieber Junge, sorge du dafür, daß die junge Dame Tee bekommt, und in fünf Minuten bin ich wieder hier und höre, was sie zu sagen hat.«
Ihr Begleiter zögerte. »Gut. Ich nehme an, ein wenig Erquikkung kann Miss Grant …«
»Miss Grant ?« Der Gesichtsausdruck des älteren Herrn änderte sich, und beinahe schroff fragte er Sheila: »Doch nicht etwa Ned Farquharsons Nichte, die wir überall suchen?«
»Doch. Und ich …«
»Sie sind unverletzt? Gott sei Dank! Wir gehen in die Bibliothek und rufen ihn gleich an. Und dann erzählen Sie mir alles. Ich sollte mich vorstellen – Belamy Mannering. Ich kenne Ihren Onkel schon seit vielen Jahren. Agenten! Wir lassen den Polizeichef kommen, in einer halben Stunde ist er hier. Sei ein braver Junge« – wandte er sich an den Jüngeren – »und entschuldige mich bei den Gästen, die noch da sind. Den Tee dürfen wir nicht vergessen. Einen Pfannkuchen vielleicht? Hier entlang.«
Sheila wurde einen langen Gang hinunter in einen düsteren Raum mit hohen Regalen geführt. Der Tee folgte fast unmittelbar; Türen schlossen sich; sie war allein mit ihrem Gastgeber. Er bot ihr einen Sessel in einer Fensternische an, setzte sich selbst an einen Schreibtisch und griff zum Telefon. »Ich habe Farquharson und die Polizei am Apparat«, sagte er, »bevor Sie sich auch nur Milch und Zucker genommen haben.« Er widmete sich ganz dem Hörer und sprach mit energischer Stimme. In der Ferne hörte sie erst einen, dann einen weiteren Wagen sanft davonfahren.
Sheila goß sich Tee ein und blickte nach draußen. Die Fenstertür führte auf eine
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