Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
lang und klar wie ein Pinselstrich. In einem Fahrzeug mit solchem Tempo war Sheila bisher noch nie gefahren – geschweige denn daß sie versucht hätte, es zu steuern. Sie dankte dem Himmel für zwei Krapfen und eine Tasse Tee: Beute, die ihr die Herrschaft über Kopf und Hand wiedergab.
Eine Meile mußte sie mindestens schon gefahren sein, aber trotzdem hielt sie den Gashebel ganz gezogen. Vernünftig war es nicht, denn bei diesem Tempo hätte jeder schwimmende Baumstamm ihr sicheres Ende bedeutet. Aber besser das als noch einmal in die Fänge von Belamy Mannering und dem falschen Alaster zu geraten. Und es war schon ein erhebendes Gefühl, wie sie um Haaresbreite davongekommen war, und die Bewegung war nicht unangenehm – eine Art gigantischer Galopp –, so daß sie sich ganz auf das Schwierige konzentrieren konnte. Das Schwierige war der Blick nach links und rechts, denn sobald sie nicht mehr starr noch vorne sah, verschwamm ihr alles vor den Augen.
Auf zwei Dinge kam es jetzt an: die Frage, ob sie noch ein zweites Boot hatten, das in der Lage war, sie zu verfolgen, und die Frage, ob es am Ufer des Loch eine Autostraße gab. Wenn sie diese zwei Gefahrenpunkte ausschließen konnte, dann war ihre Lage besser als je zuvor auf dieser Jagd. Und zudem geradezu beängstigend dramatisch. Denn ob sie wollte oder nicht, fuhr sie nun geradewegs ins Herz des Geheimnisses hinein. Der falsche Verlassene Garten und die echte Ode an die Naturschönheit des schottischen Hochlands zusammengenommen verrieten ihr das. Am Ende dieses Loch, verborgen im abendlichen Nebel, wartete der Windvogel. Und der einsame Born lag in gerader Linie von dort.
Hätten sie ein Boot gehabt, mit dem sie sie verfolgen konnten, so wäre es inzwischen auf dem Wasser. Das war gut. Sie blickte nach links – es mußte ziemlich genau Westen sein – und suchte nach einer Straße. Aber die Bäume reichten bis fast ans Ufer, und von da ging der felsige Grund steil bergauf. Wiederum gut, dachte sie und nahm sich die andere Seite vor. Auch dort keine Straße, aber sie fand doch etwas, das sie innehalten ließ. Sie schoß an einem Bootshaus vorüber – einem auffällig großen Bootshaus, das eigentlich nur zur Burg gehören konnte. Das war eine mögliche Gefahr, aber der Weg dorthin konnte kaum mehr als ein Feldweg sein. Und auch wenn alle Tore geschlossen schienen, wirkte es doch verlassen und verfallen. Mit Glück war auch von dort nichts zu befürchten.
Es war Abend geworden. Große, graue, schwere Abendwolken standen am westlichen Himmel, ihre Ränder golden gesäumt, und vor diesem düsteren Hintergrund sah die oberste Baumreihe unwirklich und bedrohlich zugleich aus. Das Leuchten, das noch von der Seeoberfläche ausgegangen war, verschwand. Bald würde es dunkel sein.
Was bei dem Tempo, das sie fuhr, nicht gut war. Und kaum hatte sie diesen Gedanken gedacht, da spitzte sich die Lage auch schon zu. Sheila steuerte jetzt einen Kurs am Ostufer entlang, das noch in der Sekunde zuvor in gerader Linie nordwärts zu laufen schien. Plötzlich kam die Küste auf sie zu, und sie erkannte, während sie das Steuer schon nach Backbord herumwarf, daß der See hier beinahe zweigeteilt war durch eine geschwungene Landzunge, so niedrig, daß sie vom Boot aus fast nicht zu sehen war. Und sie kam mit Müh und Not daran vorbei. Sie spürte, wie eine herausragende Wurzel am Bug entlangschrammte, es gab einen Ruck und der Motor spuckte, als die Schraube sich in Schilf oder Gras verfing, dann war sie wieder im offenen Wasser und hielt mit gedrosseltem Tempo auf das Westufer zu. Eine Wendung nach Steuerbord durch eine schmale Rinne, dann hatte sie den langgestreckten schimmernden Loch wieder vor sich.
Das Herz der Bucht. Wenn man von Castle Troy aus eine imaginäre Linie über diese Halbinsel zum Windvogel zog, dann blickte man genau aufs Ziel. Sie hatte einen weiteren Orientierungspunkt passiert.
Wie der Feind wohl schon lange vor ihr. Was immer es an Geheimnis gegeben hatte, den Wettlauf gegen die Uhr hatte sie gewiß längst verloren. Und vom Kontakt zu einer Stelle, an der sie Meldung machen konnte, schien sie noch genausoweit entfernt wie zuvor. Castle Troy lag offenbar ebenso einsam wie der Bauernhof, der ihr erstes Gefängnis gewesen war, und das sinistre Haus, in dem Dick Evans verschwunden war. Vielleicht gab es zwischen ihr und dem Garten – was immer der Garten sein oder wofür er stehen mochte – keine einzige Menschenseele. Dreimal sieben Meilen. Das
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