Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Abendandacht oder um Besuch zu empfangen. Je n seits des silbernen Torbogens, in ihrem weiten Rund, st e hen die Kristallrunen, die Kraft in ihrem Innern fest ve r schlossen.
»Wäre es nicht toll, den anderen zu zeigen, was wir alles tun können?«, überlegt Ann laut.
Ich nehme ihre Hand und stelle fest, dass ihr Handgelenk k eine neuen Wundmale aufweist, nur noch die verblasse n den Narben ihrer alten Verle t zungen.
»Ja, allerdings.«
Wir strecken uns im Gras aus, wie eine große Windmü h le, die Köpfe in der Mitte einander berührend. Und so li e gen wir, glaube ich, sehr lange, ha l ten uns an den Händen und spüren unsere Freundschaft in allen Fingern, bis irgen d jemand auf die Idee kommt, es wieder regnen zu la s sen.
»Sag mir noch einmal, wie die Magie der Kristallst ä be funktioniert.« Ich liege neben meiner Mutter im Gras und beobachte die wechselnden Formen der Wolken. Eine d i cke, flaumige Ente zieht sich in die Länge und verwandelt sich in etwas anderes.
»Es erfordert monate-, ja, jahrelange Übung, bis man sie beherrscht«, antwortet Mutter.
»Das ist mir klar. Aber was geschieht dabei? Si n gen sie? Sprechen sie? Stimmen die Runen zuerst God save the Queen an?« Ich weiß, dass diese B e merkung eine Frechheit ist, aber sie hat mich dazu herausgefordert.
»Ja. In E-Dur.«
»Mutter!«
»Ich glaube, ich habe das schon erklärt.«
»Sag ’ s mir noch einmal.«
»Du berührst die Kristalle mit den Händen und die Kraft strömt in dich ein. Eine Zeit lang ist sie in dir lebendig.«
»Das ist alles?«
»Im Wesentlichen, ja. Aber zuerst musst du i m stande sein, die Kraft zu kontrollieren. Sie wird von deiner Gei s teshaltung beeinflusst, deiner Absicht, deiner inneren Stä r ke. Es ist eine gewaltige Kraft. Eine Magie, mit der man nicht spielen darf. Oh, schau nur, da, ich sehe einen Elefa n ten.«
Die Entenwolke über uns hat sich in etwas ve r wandelt, was einem Klecks mit einem Rüssel ähnelt.
»Er hat nur drei Beine.«
»Nein, da ist das vierte.«
»Wo?«
»Genau da, wo es hingehört. Du schaust nicht ric h tig.«
»Doch, tu ich!«, sage ich erbost. Die Wolke hat sich schon wieder verwandelt. »Wie lange hält die magische Kraft an?«
»Kommt drauf an. Einen Tag. Manchmal kürzer.« Mu t ter richtet sich auf und schaut zu mir herunter. »Aber, Gemma, du darfst …«
»Die Magie noch nicht anwenden. Ja, ich glaube, das hast du bereits erwähnt.«
Mutter schweigt einen Moment. »Meinst du wir k lich, du bist schon reif dafür?«
»Ja!« Ich schreie es fast heraus.
»Schau dir diese Wolke dort an. Die genau über uns. Was siehst du?«
Ich sehe die Umrisse von Ohren und einem Schwanz. »Ein Kätzchen.«
»Bist du sicher?« Sie betrachtet mich prüfend.
»Ich erkenne ein Kätzchen, wenn ich eins sehe. Dazu bedarf es keiner magischen Kräfte.«
»Schau noch einmal«, sagt Mutter.
Plötzlich ist der Himmel über uns in Aufruhr. Die Wo l ken wirbeln durcheinander und sprühen Blitze. Das Kät z chen ist verschwunden und an seiner Stelle taucht ein b e drohliches Gesicht aus einem Albtraum auf. Es starrt mit einem abscheulichen Grinsen auf uns herunter, bis ich meinen Arm schützend vor meine Augen halten muss.
» Gemma! «
Ich nehme meinen Arm fort. Der Himmel ist friedlich. Das Kätzchen ist jetzt eine große Katze.
»Was war das?«, flüstere ich.
»Eine Demonstration«, sagt Mutter. »Du musst imstande sein zu sehen, was wirklich da ist. Circe wird versuchen, dir ein Monster vorzuspiegeln, wo in Wirklichkeit nur ein Kätzchen ist, und umgekehrt.«
Ich zittere immer noch. »Aber es schien so wir k lich.«
Sie nimmt meine Hand in ihre und wir liegen ganz ruhig da, ohne uns zu bewegen. In der Ferne singt Ann ein altes Volkslied, das von einer Muschelve r käuferin erzählt. Es ist ein trauriges Lied und hinte r lässt ein seltsames Gefühl. Als würde ich etwas ve r lieren, aber ich weiß nicht, was.
»Mutter, was ist, wenn ich das nicht kann? Wenn sich herausstellt, dass alles ein Irrtum war?«
Die Wolken ballen sich und lösen sich wieder auf. Nichts nimmt einstweilen Gestalt an.
»Schau. Da oben entsteht etwas, was ein Zeichen der Hoffnung sein könnte.«
Die Wolken über uns sind auseinandergetrieben und bi l d en einen schmalen Ring, ohne Anfang und Ende, mit e i nem vollkommenen Rund makellosen Blaus in der Mitte.
Am Freitag bekomme ich überraschend Besuch. Mein Br u der Tom wartet im Empfangszimmer auf mich. Eine schnatternde
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