Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Schatten lauern.
Als ich nicht antworte, fährt Mrs Nightwing fort. »Ich weiß, die Tradition gebietet eine Trauerzeit von mindestens einem Jahr. Aber ich finde, es ist nicht gesund, ständig e r innert zu werden. Das führt dazu, dass wir mehr an die T o ten denken als an die Lebe n den. Ich bin mir bewusst, dass meine Sichtweise u n konventionell ist.« Sie schaut mich über ihre Brillengläser hinweg an und lässt ihren Blick la n ge auf mir ruhen, um zu sehen, ob ich widersprechen will. Will ich nicht. »Es ist wichtig, dass Sie hier vorwärtsko m men und mit den anderen Mädchen Schritt halten. Imme r hin sind einige von ihnen schon seit Ja h ren bei uns, viel länger, als sie mit ihrer eigenen F a milie zusammen waren. Spence ist fast wie eine Familie, eine liebevolle und ehrb a re Familie, mit R e geln und Konsequenzen.« Dem letzten Wort verleiht sie besonderen Nachdruck. »Sie werden d a her die gleiche Uniform tragen, die alle Mädchen tragen. Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind?«
»Ja«, sage ich. Und obwohl ich mich ein bisschen schuldbewusst fühle, meine Trauerkleidung so bald abz u legen, bin ich doch froh, dass ich dadurch die Möglichkeit habe, auszusehen wie alle anderen. Es wird mir helfen, u n beachtet zu bleiben, hoffe ich.
»Ausgezeichnet. Sie kommen jetzt also in die erste Kla s se, m it sechs jungen Damen Ihres Alters. Das Frühstück findet Punkt neun Uhr statt. Französisch haben Sie bei M a demoiselle LeFarge, Zeichnen bei Miss Moore, Musik bei Mr Grünewald. Ich unte r richte Sie in Benehmen und Tanz. Gebetet wird j e den Abend in der Kapelle. Tatsächlich« –sie wirft einen Blick auf die Standuhr –»ist es bald so weit. Dann folgt das Abendessen. Anschließend gibt es Freizeit im Marmorsaal und um zehn ist Bettruhe für alle Mä d chen.« Sie versucht, ein Lächeln hoffnungsvoller Zuve r sicht aufzusetzen. Nach meiner Erfahrung bedarf die wir k liche Botschaft, die hinter einem solchen Lächeln steckt, einer Übersetzung.
»Ich denke, Sie werden hier sehr glücklich sein, Miss Doyle.«
Übersetzung: Das ist ein Befehl.
»Spence hat viele wundervolle junge Frauen hervorg e bracht, die aufgrund ihrer Erziehung sehr gut geheiratet haben.«
Mehr erwarten wir nicht von Ihnen. Bitte machen Sie uns keine Schande.
»Ja, Sie könnten eines Tages sogar meine Position hier einnehmen.«
Wenn Sie beim besten Willen nicht unter die Haube zu bringen sind und falls Sie nicht in einem öste r reichischen Kloster landen und dort bis an Ihr Lebensende Spitze n nachthemden nähen werden.
Mrs Nightwings Lächeln zuckt ein wenig. Ich weiß, sie wartet darauf, dass ich etwas Liebenswü r diges sage, etwas, was sie überzeugen wird, keinen Fehler gemacht zu haben, als sie ein k ummervolles Mädchen aufgenommen hat, das der Erziehung in Spence vollkommen unwürdig zu sein scheint. Los, Gemma. Wirf ihr einen Knochen hin –sag ihr, wie glücklich und stolz du bist, ein Mitglied der Familie von Spence zu sein. Aber ich nicke nur. Ihr Lächeln schwindet.
»Solange Sie hier sind, haben Sie in mir eine verlässl i che Verbündete, wenn Sie die Regeln befolgen. Oder das Schwert, das Sie zurechtstutzt, wenn Sie es nicht tun. H a ben wir uns verstanden?«
»Ja, Mrs Nightwing.«
»Ausgezeichnet. Ich zeige Ihnen jetzt die Räumlichke i ten und dann können Sie sich zum Gebet u m ziehen.«
Wir sind im dritten Stock angekommen und gehen einen Flur mit vielen Türen entlang. Fotografien der verschied e nen Jahrgänge von Spence hängen an den Wänden –gro b körnige Gesichter, die in dem düst e ren Licht der wenigen Gaslampen nur schwer zu e r kennen sind. Schließlich kommen wir zu einer Tür linker Hand am Ende des Ga n ges. »Hier befindet sich Ihr Zimmer.« Mrs Nightwing öf f net die Tür weit und gibt den Blick auf einen engen, muffig rieche n den Raum frei, der optimistisch betrachtet freudlos und realistisch gesehen trostlos zu nennen ist. Da sind ein mit Wasserflecken gemaserter Schreibtisch, ein Stuhl und eine Lampe. Zwei Eisenbetten schmiegen sich an die rec h te und linke Wand. Das eine Bett, mit ordentlich eing e schlagener Steppdecke, ist schon belegt. Das andere Bett, meins, passt mit knapper Not in eine Nische u nter einen steilen Mauervo r sprung, an dem ich mir möglicherweise den Schädel zertrümmern werde, wenn ich mich zu schnell au f setze. Es ist eine Dachkammer, die an der Längsseite des Gebäudes herausragt wie nachträglich hinzug e fügt –genau das
Weitere Kostenlose Bücher