Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
fallen halb in Oh n macht wegen Tom, der sich vor ihnen aufplustert und huldvoll verbeugt, was sie zum Err ö ten und Kichern bringt.
Lieber Gott, hilf!
Ich fürchte, ich werde mit dem Schürhaken auf meinen Bruder losgehen müssen, um diesem Theater ein Ende zu machen. Zum Glück bleibt es mir erspart, meinen Mordg e lüsten nachzugeben. Die h u morlose Haushälterin ist wieder da. Für Tom und mich heißt es nun Abschied nehmen, was hauptsäc h lich darin besteht, dass wir beide auf den Teppich starren.
»Also dann. Ich nehme an, wir sehen uns nächsten M o nat am Familientag.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Mach, dass wir stolz auf dich sein können, Gemma«, sagt er zum Schluss. Keine sentimentale Beteuerung –Ich hob dich lieb; es wird bestimmt a l les gut gehen, du wirst schon sehen. Er lächelt ein letztes Mal der Schar seiner Bewunderinnen zu, die sich immer noch in der Halle ru m drücken, und dann ist er fort. Ich bin allein.
»Hier entlang, Miss, wenn Sie erlauben«, sagt die Hau s hälterin. Ich folge ihr in ein riesiges offenes F o yer, das von einer imposanten Doppeltreppe beherrscht wird. Ein leic h ter Wind, der durch ein off e nes Fenster hereinstreicht, lässt die Kristalle des Kronleuchters über mir klirrend aneina n derschlagen . Staunend betrachte ich dieses Wunderwerk; Trop f en aus kostbarem Kristallglas, die an kunstvoll g e schmiedeten, schlangenförmigen Metallarmen hä n gen.
»Vorsicht, Miss«, warnt die Haushälterin, »die Stufen sind steil.«
Die Treppenstufen winden sich scheinbar meilenweit hoch. Wenn ich über das Geländer schaue, sehe ich weit unten das Rautenmuster der schwarzen und weißen Ma r morfliesen. Das Gemälde einer Frau mit silbernem Haar und in einem Kleid, das vor zwanzig Jahren oder so der letzte Schrei gewesen sein mag, begrüßt uns am oberen Ende der Treppe.
»Das ist Mrs Spence«, informiert mich die Hau s hälterin.
»Oh«, sage ich. »Wunderschön.« Das Porträt ist kolossal – als würde das Auge Gottes über dich w a chen.
Wir gehen weiter, einen langen Flur entlang bis zu einer massiven Doppeltür. Die Haushälterin klopft mit ihrer fle i schigen Faust, wartet. Eine Stimme antwortet von der a n deren Seite der Tür und ich trete in einen Raum mit einer dunkelgrünen, mit Pfauenf e dern gemusterten Tapete. An einem großen Schreibtisch sitzt eine einigermaßen gewic h tige Person mit hoch aufgetürmtem, ergrauendem Haar und einer mit Draht eingefassten Brille auf der Nase.
»Danke, Brigid«, sagt sie und entlässt damit die war m herzige, liebevolle Haushälterin. Die Direktorin kehrt zu ihrer Korrespondenz zurück, während ich auf dem Perse r teppich stehe und so tue, als sei ich restlos fasziniert von der Porzellanfigur eines kleinen deutschen Bauernmä d chens, das Milcheimer auf seinen Schultern trägt. In Wir k lichkeit würde ich am liebsten kehrtmachen und aus der Tür stürzen.
Tut mir schrecklich leid, mein Fehler. Ich hätte mich wohl besser in einem anderen Internat vorste l len sollen, das von menschlichen Wesen geleitet wird, die einem Mä d chen Tee oder wenigstens einen Stuhl anbieten.
Eine Standuhr tickt einschläfernd und verstärkt die M ü digkeit, gegen die ich ankämpfe.
Endlich legt die Direktorin ihren Federhalter beiseite. Sie weist auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schrei b tischs. »Setzen Sie sich.«
Kein »Bitte«. Kein »Nehmen Sie freundlicherwe i se Platz«. Alles in allem fühle ich mich so willko m men wie eine Flasche Lebertran. Der Drachen versucht, einen li e benswürdigen Blick aufzusetzen, den man mit einem Hauch kalter Zugluft verwechseln könnte.
»Ich bin Mrs Nightwing, die Direktorin der Spe n ce-Akademie für junge Damen. Ich hoffe, Sie hatten eine a n genehme Reise, Miss Doyle?«
»O ja, danke.«
Tick-tack. Tick-tack. Tick-tack.
»Hat Brigid Sie freundlich empfangen?«
»Ja, danke.«
Tick, tick, tick, tack.
»Normalerweise nehme ich keine Mädchen in diesem fortgeschrittenen Alter auf. Es fällt ihnen sehr schwer, sich an unseren Lebensstil in Spence zu g e wöhnen.« Das ist also schon mal ein Minuspunkt für mich. »Aber unter den gegebenen Umständen empfinde ich es als unsere christl i che Pflicht, eine Ausnahme zu machen. Herzliches Be i leid.«
Ich erwidere nichts und hefte meinen Blick auf das a l berne kleine Bauernmädchen. Es lächelt mit rosigen Wa n gen, wahrscheinlich befindet es sich gerade auf dem Heimweg in irgendein Dorf, wo seine Mu t ter wartet und keine dunklen
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