Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
weißblondes Haar ist zu einem ordentl i chen Knoten gesteckt, wie es sich g e hört, trotzdem wirken die Haare ein bisschen wild, als wollten die Nadeln sie nicht w irklich zusammenhalten. Lebhafte graue Augen u n ter geschwungenen Augenbrauen blicken aus e i nem fein geschnittenen Gesicht mit seidigem, wie Perlmutt schi m merndem Teint. Sie amüsiert sich über irgendetwas, wirft ihren Kopf zurück und lacht herzhaft und völlig zwanglos. Und obwohl das dunkelhaarige Mädchen von volle n deter Schönheit ist, zieht die Blonde die Aufmer k samkeit aller in dem Raum auf sich. Sie ist eindeutig die Anführerin.
Mrs Nightwing klatscht in die Hände und das G e murmel verebbt. »Ich möchte Ihnen unsere neueste Schülerin der Spence-Akademie für junge Damen vorstellen. Das ist Gemma Doyle. Miss Doyle kommt aus Shropshire und ist in der ersten Klasse. Sie hat den größten Teil ihres Lebens in Indien ve r bracht und wird bestimmt sehr gerne bereit sein, I h nen Geschichten über die vielen fremden Sitten und Gebräuche dort zu erzählen. Ich bin sicher, Sie we r den sie in bester Tradition unserer Schule willko m men heißen und mit den Gepflogenheiten hier in Spence vertraut machen.«
Ich sterbe tausend grausame und unnatürliche Tode u n ter den neugierigen Blicken von fünfzig A u genpaaren, die auf mich gerichtet sind und mich anstarren wie ein exot i sches Tier. All meine Hoffnu n gen, unbeachtet zu bleiben und nicht weiter zur Kenntnis genommen zu werden, wu r den durch Mrs Nightwings kleine Rede zunichte gemacht. Das blonde Mädchen legt den Kopf schief und taxiert mich. Sie unterdrückt ein Gähnen und wendet sich wieder dem Geplauder mit ihren Freundinnen zu. Vielleicht werde ich schließlich doch unbeachtet bleiben.
Mrs Nightwing zieht ihr Cape eng um ihre Schu l tern und weist mit ausgestrecktem Arm den Weg. »Lasst uns zur Abendandacht gehen, Mädchen.«
Während die anderen in einer ordentlichen Reihe aus der Tür strömen, steuert Mrs Nightwing mit e i nem Mädchen im Schlepptau auf mich zu. »Miss Doyle, das ist Ann Bradshaw, Ihre Zimmergenossin. Miss Bradshaw ist fün f zehn und ebenfalls in der er s ten Klasse. Sie wird Sie heute Abend begleiten, d a mit Sie sich zurechtfinden.«
»Guten Abend«, sagt Ann Bradshaw mit einem au s druckslosen Blick ihrer wässrigen blauen Augen. Ich denke an die pedantisch glatt gestrichene Step p decke und erwarte nicht von ihr, dass sie Spaß ve r steht.
»Freut mich, dich kennenzulernen«, antworte ich. Einen Moment lang stehen wir verlegen da, ohne ein Wort zu s a gen. Ann Bradshaw ist ein pummeliges, unansehnliches Ding, was ihre missliche Lage ve r doppelt. Ein hübsches Mädchen ohne Geld könnte seine Chance im Leben vie l leicht verbessern. Ihre Nase läuft. Sie betupft sie mit einem verschlissenen Spitzentaschentuch.
»Ist es nicht schrecklich, einen Schnupfen zu haben?«, sage ich und versuche, einen herzlichen Ton anzuschlagen.
Der ausdruckslose Blick verändert sich nicht. »Ich hab keinen Schnupfen.«
Prima. War ja nur eine Frage. Gleich werden wir uns stürmisch um den Hals fallen, Miss Bradshaw und ich. Wenn es möglich wäre, würde ich auf der Stelle von hier verschwinden.
»Hier geht ’ s zur Kapelle«, sagt sie, mit diesem sprühe n den Konversationsbeitrag das Eis brechend. »Wir dürfen nicht zu spät zur Abendandacht ko m men.«
Wir gehen am Ende der Gruppe, hügelauf durch den Wald auf die aus Stein und Holzbalken erbaute K a pelle zu. Nebel hat sich gebildet. Er breitet sich auf dem Boden aus und verleiht dem ganzen Ort eine unheimliche Atmosphäre. Vor uns flattern die blauen Capes der Mädchen in der Nachtluft, bevor der dichter werdende Nebel alles ve r schluckt bis auf die Echos ihrer Stimmen.
»Warum hat dich deine Familie hierher g e schickt?«, fragt Ann auf eine äußerst ruppige Art.
»Um mich zu zivilisieren, nehme ich an.« Ich hä n ge ein kleines Lachen an. Siehst du, wie lustig ich bin? Ha, ha. Ann lacht nicht.
»Mein Vater starb, als ich drei war. Meine Mutter mus s te arbeiten gehen, aber dann ist sie krank g e worden und auch gestorben. Ihre Familie wollte mich nicht bei sich aufnehmen, aber sie wollten mich auch nicht in ein A r menhaus stecken. Also haben sie mich hierher geschickt, um mich zur Gouvernante ausbi l den zu lassen.«
Ihre Ehrlichkeit ist verblüffend. Ich weiß nicht recht, was ich erwidern soll. »Oh, das tut mir leid«, sage ich, als ich meine Sprache wiedergefunden h a be.
Diese
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