Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
entweder taub oder nicht ganz bei der Sache. Ihr lächelndes Gesicht verfinstert sich allmählich, bis sie es ganz aufgibt, mir Fragen zu stellen, was mir nur recht ist. Als die anstrengende Stunde endlich vorbei ist, habe ich gelernt, Sätze wie »Wie reizend« und »Ja, meine Erdbeeren sind sehr saftig« hervorzustottern.
Mademoiselle hebt ihre Arme und wir stehen gemei n sam von unseren Plätzen auf, um uns im Chor zu vera b schieden. »Au revoir, Mademoiselle LeFa r ge.«
»Au revoir, mes filles «, ruft sie, während wir unsere B ü cher und Tintenfässer in unseren Pulten verstauen. »Miss Doyle, könnten Sie noch einen Moment hierbleiben?« Ihr englischer Akzent ist e r frischend wie kaltes Wasser nach all dem blumigen Französisch. Mademoiselle LeFarge stammt genauso wenig aus Paris wie ich.
Felicity stolpert fast über ihre eigenen Füße, als sie Hals über Kopf zur Tür stürzt.
»Mademoiselle Worthington! Es besteht kein Grund zur Eile.«
»Pardon, Mademoiselle LeFarge.« Felicity schaut mich durchdringend an. »Mir fiel gerade ein, dass ich vor der nächsten Stunde noch etwas Wichtiges zu erledigen h a be.«
Als sich das Klassenzimmer allmählich leert und nur wir zwei übrig bleiben, lässt sich Mademoiselle LeFarge in i h rer ganzen Leibesfülle hinter dem Le h rerpult nieder. Der Schreibtisch ist leer mit Ausna h me einer Fotografie eines h übschen Mannes in Un i form. Wahrscheinlich ein Bruder oder ein anderer Verwandter. Schließlich ist sie eine M a demoiselle und älter als fünfundzwanzig –eine alter Jun g fer, o h ne Hoffnung, noch zu heiraten. Warum wäre sie sonst auch hier, um als letzte verbleibende Möglichkeit Mädchen zu unterrichten?
Mademoiselle LeFarge schüttelt den Kopf. »Ihr Franz ö sisch bedarf noch harter Arbeit, Mademoiselle Doyle. Sie werden sich sehr anstrengen müssen, um in dieser Klasse zu bleiben. Wenn ich keine For t schritte erkenne, werde ich mich gezwungen sehen, Sie zurückzustufen.«
»Ja, Mademoiselle.«
»Sie können jederzeit die anderen Mädchen um Hilfe bitten. Miss Worthingtons Französisch ist recht gut.«
»Ja«, sage ich und schlucke schwer. Ich würde eher meine Nägel essen, als Felicity um Hilfe zu bi t ten.
Der Rest des Tages schleppt sich langsam und erei g nislos dahin. Es gibt Redeübungen, Tanzstunden, Unterricht in Benehmen und Latein. Wir haben Musik bei Mr Grün e wald, einem kleinen Österreicher mit krummem Rücken, schlaffen Zügen und einem müden, resignierten G e sichtsausdruck. Jeder seiner Seufzer sagt, der Versuch, uns Singen und Musizi e ren beizubringen, ist nur einen Schritt davon entfernt, eines langsamen, qualvollen Todes zu ste r ben. Wir alle wetteifern, wenngleich wenig berauschend, mit unseren Gesangskünsten –ausgenommen Ann.
Als Ann an der Reihe ist, aufzustehen und ein Lied vo r zutragen, strömt eine klare, liebliche Stimme aus ihr he r aus. Sie singt wunderschön, wenn auch etwas ängstlich und unsicher. Mit der nötigen Ausbildung und ein bisschen mehr Ausdruck könnte sie es wir k lich zu etwas bringen. Es ist ein Jammer, dass sie nie die Chance dazu bekommen wird. Ann ist hier, um sich darauf vorzubereiten, in Ste l lung zu gehen, sonst nichts. Als sie ihr Lied beendet hat, geht sie mit g e senktem Kopf wieder zu ihrem Platz zurück und ich frage mich, wie viele kleine Tode sie täglich stirbt.
»Du hast eine sehr schöne Stimme«, flüstere ich ihr zu, als sie sich in ihrer Bank niederlässt.
»Das sagst du nur aus Freundlichkeit«, erwidert sie und kaut dabei an einem Fingernagel. Aber eine heiße Röte steigt in ihre pausbäckigen Wangen und ich weiß, dass di e ser Moment des Singens alles für sie bedeutet, und sei er noch so kurz.
Die Woche vergeht in eintönigem Trott. Beten. B e nehmen. Haltung. Von früh bis spät genieße ich den gleichen gesel l schaftlichen Außenseiterstatus wie Ann. Abends sitzen wir beide am Feuer im Marmorsaal. Nur das Gelächter von F e licity und ihren Jüng e rinnen durchbricht die Stille, wobei sie uns absich t lich ignorieren. Ich bin überzeugt, dass ich bis sp ä testens zum Wochenende unsichtbar sein werde. Aber nicht für jedermann.
Kartik hat mir eine Botschaft hinterlassen. In der Nacht, n achdem ich das Tagebuch entdeckt habe, finde ich, mit einer kleinen Messerklinge an mein Bett geheftet, einen alten Brief von Vater. Es hatte wehgetan, den herzzerre i ßenden Brief zu lesen, und so hatte ich ihn ganz hinten in der Schublade meines
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