Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
wirklich ist wie Dein Fußa b druck im Schnee. Ich will Dir erzählen, wie wir selbst die Büchse der Pandora geöffnet haben, wie wir Freiheit g e kostet, Blutschuld auf uns geladen und die Welt in Angst und Schrecken versetzt haben, bis unser Orden völlig ze r stört war. Diese Seiten sind ein Geständnis all dessen, was zu diesem kalten, grauen Dämmerlicht geführt hat. Was nun geschehen wird, weiß ich nicht.
Klopft Dein Herz rascher?
Scheint es Dir, als würden sich die Wolken am Horizont zusammenballen ?
Fühlt sich die Haut in Deinem Nacken an, als wa r te sie auf einen Kuss, den Du ebenso fürchtest wie herbeisehnst?
Willst Du dem Schrecken ins Auge sehen ?
Willst Du die Wahrheit wissen:
Mary Dowd, 7. April 1871
Ist das die Mary, die meint, mich zu kennen? Ich kenne keine Mary Dowd. Mein Kopf tut weh und ich friere nur in meinem Nachthemd hier draußen.
»Sag Mary, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich will von i h rem merkwürdigen Reich nichts wissen.«
»Sie könnte Ihnen sogar den Weg dorthin zeigen.«
»Nun, ich bin nicht gewillt zu folgen! Verstanden, Mary Dowd?« Ich brülle aus Leibeskräften, bis das Echo von den Wänden der Höhle in meinen Ohren widerhallt. Auf diese Weise gelingt es mir, die Vis i on abzuschütteln. Ich stehe allein in der Höhle, das Tagebuch in meinen Händen.
Das Leben von Mary Dowd liegt auf meinem Bett und ve r spottet mich. Ich könnte es verbrennen. Ich könnte es z u rücktragen und vergraben. Aber dafür ist meine Neugier zu groß. Ich zünde eine Kerze an, stelle sie auf das Fenste r brett und lese in dem schw a chen Licht, so viel ich kann. Ich entdecke, dass Mary Dowd im Jahr 1871 sechzehn ist. Sie liebt Waldsp a ziergänge, vermisst ihre Familie, wünscht, sie hätte eine schönere Haut. Ihre beste Freundin ist ein Mädchen namens Sarah Rees-Toome, »das beza u berndste und tugendhafteste Mädchen auf der Welt«. Sie sind wie Schwestern, u nzertrennlich. Ich bin eifersüchtig auf ein Mädchen, das ich nie gekannt habe. Die er s ten zwanzig Seiten des Tagebuchs sind, alles in a l lem, von quälender Langeweile und ich verstehe nicht, warum das kleine Mädchen wollte, dass ich es habe. Der Schlaf droht mich zu überwältigen, meine Augenlider flattern und mein Kopf sinkt mir auf die Brust. Also lege ich das Tagebuch ganz nach hinten in den Kleiderschrank zu Vaters Kricke t schläger. Und dann verbannt es der Schlaf aus meinen G e da n ken.
Ich träume von meiner Mutter. Sie streicht mit sanften Händen mein Haar zurück, ihre warmen Finger durc h kämmen es wie Sonnenlicht, machen mich glücklich und zufrieden. Ihre Arme umfangen mich, aber ich schlüpfe aus der Umarmung in die Ruinen eines alten Tempels. Am F u ße eines mit tiefgrünen Weinreben überwucherten Altars gleiten Schlangen dahin. Ein heftiger Sturm kommt auf, dicke Wolken verdunkeln den Himmel. Mutters Gesicht ist angs t verzerrt. Plötzlich nimmt sie ihre Halskette ab und wirft sie mir zu. Die Kette hängt in der Luft, b e schreibt langsame Spiralen, bis sie in meinen Händen landet, wobei die scharfe Kante des silbernen Auges in meine Handfläche schneidet. Blut sickert aus der Wunde. Als ich hochblicke, schreit mir Mutter durch den Sturm etwas zu. Das Heulen des Windes übe r tönt es fast vollständig. Aber ein Wort dringt deutlich an mein Ohr.
Lauf.
9. Kapitel
A l s ich aufwache, ist es ein wirklicher, strahlend blauer Morgen, mit echtem Sonnenlicht, das durchs Fenster he r ein strömt. Alles draußen ist golden. Ni e mand verlangt von mir, etwas zu stehlen. Keine jungen Männer in weiten schwarzen Mänteln, die krypt i sche Warnu n gen ausstoßen. Keine seltsamen, leuchtenden kleinen Mädchen, die Wache halten, während ich in finst e ren Höhlen herumstöbere. Es ist, als hätte es die vergang e ne Nacht nie gegeben. Ich str e cke die Arme über meinen Kopf und versuche, mich an meine merkwürdigen Träume zu erinnern; etwas über me i ne Mutter, aber es will mir nicht einfallen. Das Tag e buch liegt im Kleiderschrank, wo es meinetwegen verschimmeln kann. Mein erster Gedanke heute heißt Rache.
»Du bist wach«, sagt Ann. Sie sitzt vollständig angez o gen auf ihrem Bett und beobachtet mich.
»Ja«, antworte ich.
»Zieh dich lieber an, wenn du ein warmes Frühstück möchtest. Es ist ungenießbar, wenn es kalt wird.« Sie ve r stummt. Starrt. »Ich hab den Schlamm weggeputzt, den du hereingetragen hast.«
Ich folge ihrem Blick, und aha, da haben wir es, mein
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