Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Schreibtischs versteckt. Ihn nun auf meinem Bett zu sehen, mit den Worten Du wurdest g e warnt quer über Vaters Unterschrift geschmiert, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Die Drohung ist klar. Die einzige Chance, mich und meine Familie vor Unheil zu bewahren, besteht darin, meinen Geist vor neuen Visionen zu verschließen. Doch ich stelle fest, dass ich meinen Geist nicht versperren kann, ohne mich selbst auszusperren. Vor Angst verkrieche ich mich in mich selbst.
Die einzige Zeit, in der ich mich lebendig fühle, ist wä h rend des Zeichenunterrichts bei Miss Moore. Ich hatte ihn mir langweilig vorgestellt –kleine Naturskizzen von K a ninchen, die glücklich in der engl i schen Landschaft grasen –, aber Miss Moore übe r rascht mich abermals. Sie hat das berühmte Gedicht Die Lady von Shalott von Alfred Lord Tennyson als Anregung für unsere Arbeit ausgewählt. Es handelt von einer Frau, die sterben wird, wenn sie die S i cherheit ihres Elfenbeinturms verlässt. Noch überrasche n der ist, dass Miss Moore wissen will, was wir über Kunst denken. Sie möchte, dass wir unsere Gedanken laut au s sprechen und den Mut haben, eine eigene Meinung zu ä u ßern, statt naturgetreue Abbi l der von prallen Früchten zu malen. Das stürzt die Schafe in beträchtliche Verwirrung.
»Was können Sie mir zu dieser Studie der Lady von Shalott sagen?«, fragt Miss Moore, als sie das Blatt auf e i ne Staffelei stellt. Das Bild zeigt eine Frau, die an einem großen Fenster steht und auf einen Ritter im Wald hinu n terblickt. Ein Spiegel r e flektiert das Innere des Zimmers.
Eine Weile ist es still.
»Will irgendjemand etwas sagen?«
»Es ist eine Kohlezeichnung«, antwortet Ann.
»Ja, das lässt sich kaum bestreiten, Miss Bra d shaw. Noch jemand?« Miss Moore schaut unter uns Anwesenden nach einem Opfer aus. »Miss Temple? Miss Poole?« Ni e mand sagt ein Wort. »Ah, Miss Worthington, Sie sind se l ten um Worte verlegen.«
Felicity legt ihren Kopf schief, als würde sie die Zeic h nung eingehend betrachten, doch ich könnte schwören, dass sie schon weiß, was sie sagen wird. »Es ist eine za u berhafte Studie, Miss Moore. Eine wundervolle Kompos i tion in ihrer Ausgewogenheit zwischen dem Spiegel und der Frau, im Stil der Pr ä raffaeliten, glaube ich.« Felicity knipst ihr Lächeln an, bereit, das Lob entgegenzunehmen. Wie sie es auf ihre raffiniert naive Art versteht, sich in Szene zu setzen, das ist hier die wahre Kunst.
Miss Moore nickt. »Eine genaue, wenn auch etwas se e lenlose Beobachtung.« Felicitys Lächeln erlischt schlaga r tig. Miss Moore fährt fort. »Aber was geht Ihrer Meinung nach in dem Bild vor? Was will uns der Künstler über di e se Frau sagen? Was fühlen Sie, wenn Sie es betrachten?«
Was fühlen Sie? Diese Frage wurde mir noch nie g e stellt.
Niemandem von uns. Man erwartet von uns keine G e fühle. Wir sind Engländerinnen. Im Raum ist es vollko m men still.
»Es ist sehr ansprechend«, sagt Elizabeth und drückt damit ihre typische meinungslose Meinung aus. »Hübsch.«
»Sie fühlen sich hübsch, wenn Sie das Bild b e trachten?«, fragt Miss Moore.
»Nein. Ja. Sollte ich mich hübsch fühlen?«
»Miss Poole, ich würde mir nie erlauben, Ihnen vorz u schreiben, wie Sie auf ein Kunstwerk zu reagi e ren haben.«
»Aber Bilder sind entweder ansprechend und hübsch oder sie sind Mist. Ist es nicht so? Sollten wir nicht lernen, hübsche Bilder zu malen?«, schaltet sich Pippa ein.
»Nicht unbedingt. Versuchen wir es anders. Was erei g net sich in diesem Moment auf dem Bild, Miss Cross?«
»Die Dame schaut aus dem Fenster zu Sir Lancelot?« Pippa kleidet ihre Antwort in eine Frage, als wäre sie nicht einmal sicher, was sie sieht.
»Ja. Sie alle sind mit Tennysons Gedicht vertraut. Was geschieht mit der Lady von Shalott?«
Martha meldet sich, froh, wenigstens in einem Punkt s i cher zu sein. »Sie verlässt den Turm und treibt in ihrem Boot flussabwärts .«
»Und?«
Mit Marthas Sicherheit ist es schon wieder vorbei. »Und … sie stirbt.«
»Warum?«
Einige lachen nervös, aber niemand weiß eine Antwort.
Schließlich zerschneidet Felicitys messerscharfe Stimme die Stille. »Weil ein Fluch auf ihr liegt.«
»Nein, sie stirbt aus Liebe«, sagt Pippa im Brus t ton der Überzeugung. »Sie kann ohne ihn nicht l e ben. Es ist schrecklich romantisch.«
Miss Moore lächelt gequält. »Mehr schrecklich als r o mantisch.«
Pippa ist verwirrt. »Ich finde, es ist
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