Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
darf sich nicht in die Zunge be i ßen.«
Unter großer Anstrengung drehen wir sie auf die Seite. Für eine so zierliche Person ist Pippa erstau n lich schwer. Brigid stürzt in den Ballsaal und schreit auf.
Mrs Nightwing bellt Befehle wie ein General. »Brigid! Schicken Sie sofort nach Dr. Thomas! Miss Moore, bitte seien Sie so gut.« Brigid rennt hinaus, Miss Moore kommt herein, einen Löffel schwingend. Sie schiebt ihn in Pippas röchelnden Mund, als wol l te sie sie damit ersticken.
»Was tun Sie?«, schreie ich. »Sie bekommt keine Luft!« Ich versuche den Löffel herauszuziehen, aber Miss Moore hält meine Hand fest.
»Der Löffel hindert sie daran, sich die Zunge abzube i ßen.«
Ich möchte ihr glauben, aber so, wie Pippa auf dem B o den um sich schlägt, ist es schwer vorstellbar, dass wir i r gendetwas für sie tun können. Und dann lassen die gewal t samen, krampfhaften Zuckungen nach. Pippa schließt die Augen und liegt ganz still, wie tot.
»Ist sie … ? «, flüstere ich, unfähig, den Satz zu beenden. Ich will die Antwort nicht wissen.
Mrs Nightwing stemmt sich auf die Füße. »Miss Moore, würden Sie sich bitte erkundigen, wie es mit Dr. Thomas steht?«
Miss Moore nickt und marschiert zur offenen Tür, e r mahnt die Mädchen, die neugierig zu uns herei n schauen, sie durchzulassen. Mrs Nightwing breitet ihren Schal über Pippa. So auf dem Boden liegend sieht sie genau wie eine schlafende Prinzessin aus einem Märchen aus.
Ich merke gar nicht, dass ich immer wieder leise mur m le: »Es tut mir leid, Pippa, es tut mir leid.«
Mrs Nightwing betrachtet mich neugierig. »Ich weiß nicht, was Sie denken, Miss Doyle, aber Sie haben damit nichts zu tun. Pippa leidet unter Epile p sie. Sie hatte einen epileptischen Anfall.«
»Epilepsie?«, wiederholt Cecily in einem Ton, dass es wie Lepra oder Syphilis klingt.
»Ja, Miss Temple. Und jetzt muss ich Sie bitten, ni e mals ein Wort darüber zu verlieren. Es muss ve r gessen werden. Sollte mir Geklatsche zu Ohren kommen, gebe ich den Mädchen, die daran beteiligt sind, dreißig M i nuspunkte für schlechte Führung und entziehe ihnen sämtliche Privil e gien. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Wir nicken wortlos.
»Können wir irgendetwas tun, um zu helfen?«, fragt Ann. Mrs Nightwing betupft ihre Braue mit einem T a schentuch. »Sie sollten ein Gebet sprechen.«
Die Abenddämmerung bricht sacht herein. Frühe Du n kelheit sickert durch die hohen Fenster und nimmt den Räumen langsam ihre Farbe. Ich habe keinen Appetit aufs Abendessen und auch keine Lust, den anderen im Marmo r saal Gesellschaft zu leisten. Stattdessen wandere ich ziellos umher, bis ich vor Pippas Zimmer stehe. Ich klopfe leise an die Tür. Miss Moore öffnet. Hinter ihr liegt Pippa auf dem Bett, schön und still.
»Wie geht es ihr?«
»Sie schläft«, antwortet Miss Moore. »Kommen Sie. Es ist sinnlos, draußen auf dem Gang zu stehen.« Die Tür schwingt weit auf. Miss Moore bietet mir den Stuhl am Bett an und zieht einen anderen für sich selbst heran. Es ist eine kleine, freundliche Geste und aus irgendeinem Grund vergrößert das meine Tra u rigkeit noch. Wenn sie wüsste, was ich Pippa angetan habe, was für eine Lügn e rin ich bin, wäre sie nicht so nett zu mir.
Pippa atmet tief, scheinbar unbekümmert. Ich habe Angst, selbst einzuschlafen. Angst, Pippas erschr o ckenes Gesicht zu sehen, als sie kopfüber in meine verdammte, blödsinnige Vision hineingestürzt ist. Ich bin erschöpft von Angst und Schuldgefühlen. Zu müde, um die Tränen z u rückzuhalten, vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und weine, um Pippa, um meine Mutter, meinen Vater, um alles.
Miss Moore legt mir ihren Arm um die Schultern. »Schhh, machen Sie sich keine Sorgen. Pippa wird in ein, zwei Tagen wieder auf den Beinen sein.«
Ich nicke und weine noch heftiger.
»Irgendwie scheint mir, diese Tränen sind nicht a l le für Pippa.«
»Ich bin eine abscheuliche Person, Miss Moore. Sie wi s sen nicht, wozu ich fähig bin.«
»Aber, aber, was soll der Unsinn?«, murmelt sie.
»Es stimmt. Ich bin ganz und gar kein guter Mensch. Wenn ich nicht gewesen wäre, würde meine Mutter noch leben.«
»Ihre Mutter ist an der Cholera gestorben. Sie ha t ten mit ihrem Tod nichts zu tun.«
Die Wahrheit war so lange in mir eingeschlossen, dass sie jetzt in einem Schwall herausströmt. »Nein, das stimmt nicht. Sie wurde ermordet. Ich bin fortgelaufen und sie kam mir nach und wurde ermordet. Ich habe sie
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