Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
guttun« , sagt Vater.
»Freiheit kann ein unheilvolles Ende nehmen« , sagt meine Großmutter. Sie hat den Namen meiner Mutter nicht ausg e sprochen , aber mit der versteckten Drohung hat sie Vater mi t ten ins Herz getroffen.
»Habe ich erwähnt , dass Gemma das ganz außergewöhnl i che Glück hatte , heute auf dem Bahnhof Simon Middleton zu treffen?« Kaum hat Tom das gesagt , merkt er , dass es ein Fehler war.
»Und wie kam das?« , fragt Vater.
Tom wird blass. »Na ja , ich konnte keine zweirädrige Droschke auftreiben , weißt du , und es herrschte ein so fürc h terliches Gedränge und …«
»Mein Sohn« , braust Vater auf , »willst du damit sagen , dass meine Tochter allein auf dem Bahnhof war?«
»Nur ein paar Minuten« , sagt Tom.
Vaters Faust saust auf den Tisch herunter , dass unsere Te l ler klirren und Großmamas Hände flattern. »Du hast mich heute enttäuscht.« Und damit verlässt Vater den Raum.
»Ich bin immer eine Enttäuschung« , sagt Tom.
»Ich hoffe , du weißt , was du tust , Thomas« , flüstert Gro ß mama. »Seine Laune verschlechtert sich täglich.«
»Wenigstens bin ich gewillt , etwas zu tun« , sagt Tom bi t ter.
Mrs Jones erscheint. »Ist alles in Ordnung , Madam?«
»Ja , danke« , sagt Großmama. »Mr Doyle wird seinen K u chen später essen« , sagt sie , als sei das Ganze übe r haupt nicht der Rede wert.
Nach unserem höchst unerfreulichen Abendessen sitzen V a ter und ich am Spieltisch und spielen Schach. Se i ne Hände zittern , aber er spielt noch immer überr a schend gut. In nur sechs Zügen hat er mich schachmatt gesetzt.
»Das war unglaublich raffiniert. Wie hast du das g e macht?« , frage ich.
Er tippt sich mit einem Finger an die Schläfe. »Man muss seine Gegnerin kennen , muss wissen , wie sie denkt.«
»Wie denke ich?«
»Du siehst den offensichtlichen Zug , als sei es der ei n zige , und stürmst los , ohne zu denken und ohne zu schauen , ob es nicht noch einen anderen Weg gibt. Und das macht dich a n greifbar.«
»Aber das war der einzige Zug« , protestiere ich.
Vater hebt einen Finger , damit ich still bin. Er stellt die F i guren so aufs Brett , wie sie zwei Züge vorher gestanden h a ben. »Jetzt schau.«
Ich sehe die gleiche Ausgangssituation. »Deine Königin steht allein.«
»Halt , nicht so voreilig … Denk einige Züge voraus.«
Ich sehe nur die Königin. »Tut mir leid , Vater. Ich seh ’ s nicht.«
Er zeigt mir Zug um Zug. Der Läufer steht abwartend , er lauert darauf , mich in die Enge zu treiben und mir den Rüc k zug abzuschneiden. »Alles ist eine Frage des De n kens« , sagt er. »Das würde deine Mutter sagen.«
Mutter. Er hat es ausgesprochen , das unaussprechbare Wort.
»Du siehst ihr sehr ähnlich.« Er birgt sein Gesicht in den Händen und weint. »Ich vermisse sie so sehr.«
Ich weiß nicht , was ich sagen soll. Ich habe meinen V a ter nie weinen sehen. »Ich vermisse sie auch.«
Er zieht ein Taschentuch heraus und schnäuzt sich. »Es tut mir so leid , mein Kleines.« Sein Gesicht hellt sich auf. »Ich habe ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk für dich. Meinst du , dass ich dich zu sehr verwöhne , wenn ich es dir jetzt schon gebe?«
»Ja , schrecklich!« , sage ich , um ihn aufzuheitern. »Wo ist es?«
Vater geht zur Vitrine und rüttelt an der Tür. »Aha. Ve r sperrt. Ich glaube , der Schlüssel ist in Großmamas Zimmer. Könntest du ihn holen , Liebling?«
Ich stürze zu Großmamas Zimmer , finde auf ihrem Nach t tisch den Schlüssel und kehre damit zurück. Vaters Hände zittern so , dass er den Glasschrank kaum aufspe r ren kann.
»Ist es ein Schmuckstück?« , frage ich.
»Man könnte es so nennen , glaube ich.« Mit Mühe öf f net er die Glastür und schiebt Dinge beiseite , um dahinter e t was zu suchen. »Wo hab ich ’ s bloß … Warte eine Seku n de.«
Er öffnet die unversperrte Schublade darunter und zieht ein in rotes Papier eingewickeltes Päckchen hervor. Im Band steckt ein Stechpalmenzweig. »Es war die ganze Zeit in der Schublade.«
Ich trage das Päckchen zum Sofa und reiße das Papier auf. Es ist ein Exemplar von Elizabeth Barrett Brownings Sonetten aus dem Portugiesischen.
»Oh« , sage ich und hoffe , nicht so enttäuscht zu klingen , wie ich bin. »Ein Buch.«
»Es gehörte deiner Mutter. Das waren ihre Lieblingsg e dichte. Sie hat sie mir am Abend vorgelesen.« Er schluckt und kann nicht mehr weiterreden.
»Vater?«
Er zieht mich an sich und hält mich ganz fest. »Ich bin
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