Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
tritt von der Droschke zurück. Ein Bettlerjunge mit nur einem Bein humpelt auf sie zu.
»Bitte , Miss? Einen halben Penny für den Krüppel?« , sagt er mit zitternder Lippe.
»Unsinn« , sagt sie. »Du hast dein Bein in der Hose ve r steckt , stimmt ’ s? Lüg mich nicht an.«
»Nein , Ma ’ m« , sagt er , aber jetzt kann ich deutlich das a n dere , abgewinkelte Bein sehen , das sich unter seiner Hose abzeichnet.
»Mach , dass du wegkommst , bevor ich die Polizei r u fe.«
Blitzschnell fährt das Bein herunter und er sucht auf zwei gesunden Beinen das Weite. Ich muss darüber l a chen. »Oh , Miss Moore , ich freue mich so , Sie zu sehen.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite , Miss Doyle. Ich bin meistens nachmittags von drei bis fünf zu Hause. Sie sind jederzeit herzlich eingeladen.«
Sie geht und taucht wieder im Menschengewühl der Oxford Street unter. Miss Moore war es , die uns als Erste vom Orden des aufgehenden Mondes erzählt hat. Ich frage mich , was sie uns noch darüber sagen könnte –falls wir es wagen , sie zu fragen. Wahrscheinlich würde sie uns zum Teufel jagen , und wohl zu Recht. Trotzdem , vielleicht können wir irgendetwas herausbekommen , wenn wir mit unseren Fragen nur vorsic h tig genug sind. Und falls nicht , dann ist es zumindest eine Gelegenheit , um dem Haus meiner Großmutter zu entfliehen. Siche r lich hat der Himmel Miss Moore geschickt , damit ich in diesen Ferien nicht den Verstand verliere.
Tom kommt aus dem Geschäft zurück. Er lässt das kuns t voll in braunes Papier gewickelte Paket auf meinen Schoß fallen. »Ein scheußlicher Obstkuchen. Wer war diese Frau?«
»Ach« , sage ich , »niemand. Eine Lehrerin.« Als die Droschke mit einem Ruck anfährt , füge ich hinzu: »Eine Freundin.«
14. Kapitel
G roßmama hat eine Wohnung in einem elega n ten Haus auf dem vornehmen Belgrave Square g e mietet , der unmittelbar an den Hyde Park grenzt. Gewöhnlich lebt sie auf Sheeps Me a dow , ihrem Landsitz , und kommt nur während der Saison nach London , von Mai bis Mitte August , und zu Weihnac h ten. Das heißt , sie kommt nur , um sich in der Londoner G e sellschaft zu zeigen , zu sehen und gesehen zu we r den.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl , in den unbekannten Ei n gangsflur zu treten , den Kleiderständer und den Abl a getisch mit Spiegel , die burgunderroten Tapeten , die mit Quaste n schnüren gerafften Samtgardinen zu betrac h ten. Als müsste ich in diesen seltsamen Dingen Trost finden. Als wäre dies ein Ort , der mir lieb und vertraut sein sol l te , dabei habe ich doch noch nie einen Fuß hierherg e setzt. Obwohl die Wohnung reich mit Polstersesseln , einem Klavier , einem mit Süßigke i ten und Bändern g e schmückten Weihnachtsbaum ausgestattet ist und o b schon in jedem Zimmer ein wohliges Feuer flackert , fühlt es sich nicht wie zu Hause an. Zu Hause , das ist für mich Indien. Ich denke an Sarita , unsere Haushälterin , und sehe ihr durchfurchtes Gesicht und ihr zahnlückiges L ä cheln. Ich sehe unser Haus mit der offenen Veranda und einer Schüssel Da t teln auf dem Tisch. Meist denke ich an Mutters Fürsorge und Vaters dröhnendes Lachen , zu der Zeit , als er noch lachte.
Da Großmama noch nicht von einem Besuch zurück ist , empfängt mich die Haushälterin , Mrs Jones. Sie fragt mich , ob ich eine angenehme Reise gehabt hätte , und ich bejahe , wie man es erwartet. Mehr haben wir uns nicht zu sagen und so führt sie mich zwei Treppenfluchten zu meinem Zimmer hinauf. Es ist ein Hinterzimmer , durch dessen Fenster man auf die Wagenschuppen und Pferd e ställe blickt , auf die kleine Gasse hinter unserem Haus , wo die Kutscher mit ihren Fam i lien hausen. Es ist ein trostloser Ort und ich frage mich , wie es sein mag , sich bei den Pferden im Heu zu wälzen und zu den Lichtern dieser weißen Prachtbauten hinaufzustarren , wo wir alles haben , was das Herz begehrt.
Nachdem ich mich zum Abendessen umgezogen habe , gehe ich wieder nach unten. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock bleibe ich stehen. Vater und Tom haben hinter der a n gelehnten Tür zur Bibliothek eine Ause i nandersetzung und ich schleiche näher , um zu lauschen.
»Aber Vater« , sagt Tom. »Meinst du , es ist klug , einen Ausländer als Kutscher einzustellen? Ich darf wohl behau p ten , dass es mehr als genug Engländer gibt , die für diese A r beit bestens geeignet sind.«
Ich spähe durch den kleinen Türspalt. Vater und Tom st e hen sich gegenüber wie zwei
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