Der Geheimnistraeger
allerdings in verschiedenen Sprachen«, sagte Christian. »Beides sind jüdische Namen und gehen auf das Hebräische zurück. Das Wort bedeutet Priester. Es scheint, als sei unser Freund Tal unterwegs und nähere sich fliegend seinem Gott.«
In London hatte Tal Kagan gerade ein Treffen mit drei Männern beendet. Einer von ihnen war der Vertreter des Konsortiums, die anderen beiden waren Kagans libanesische Kompagnons. Die Stimmung war fast ausgelassen gewesen. Die Verluste an Menschenleben waren vernachlässigbar und zu erwarten gewesen. Die Vorteile der Aktion hatten überwogen. Hier hatte es sich erst um den ersten Akt des großen Spiels gehandelt.
65. Kapitel
Møller versuchte logisch zu denken. Er wusste, dass Paolo Rocca das Hotel am Morgen verlassen und dann am späteren Vormittag den Zug vom Hauptbahnhof in Malmö genommen hatte. Der Abstand betrug zu Fuß nur gute zwei Kilometer. Logisch wäre gewesen, die Luftlinie zwischen diesen beiden Punkten zu wählen, soweit die Bebauung das eben zuließ. Er begann daraufhin nach allen denkbaren Stellen an diesem direkten Weg zu suchen, an denen sich abschließbare Schränke befinden konnten: Schulen, Fitnessstudios, Banken, andere Hotels.
Der Schlüssel passte nirgends. Aber gingen Terroristen wirklich wie normale Menschen die Straßen entlang? Das wirkte so banal. Ein Taxi leuchtete schon eher ein. Da vergrößerte sich sofort der Radius, den Rocca innerhalb der Zeitspanne, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, von seinem Hotel aus hatte erreichen können. Aber kein Taxiunternehmen hatte an diesem Morgen jemanden in seinem Hotel abgeholt. Bus? Vielleicht. Alles war in dieser Welt, auf die sich Møller nicht verstand, vorstellbar.
Nach einem Tag hatten Møller und seine schwedischen und dänischen Kollegen überall im Umkreis um das Hotel und den Hauptbahnhof alles abgesucht. Sie hatten sich das Zentrum in
Kuchenstücke aufgeteilt und fraßen sich durch ein immer größeres Gebiet.
Møller stand auf dem Schulhof der Borgarskolan. Er fühlte sich immer mutloser. Warum gab es nie einfache Lösungen? Er nahm den Schlüssel aus der Tasche und betrachtete ihn. Er war recht klein und nicht sonderlich stabil. Eigentlich war kaum zu fassen, dass er zu einem Safe oder einem Bankfach passen sollte. Solche Schlüssel waren massiver. Dieser Schlüssel passte vielleicht zu einem Vorhängeschloss, zu einem Spind oder zu …
»Einer Tasche«, murmelte Møller.
Hatte er die ganze Zeit in die falsche Richtung gedacht? Der Schlüssel passte vielleicht nicht zu einem Schrank, in den Rocca seine Tasche eingeschlossen hatte, sondern zur eigentlichen Tasche.
Aber half ihm das weiter? Irgendwo musste sich diese Tasche befinden, eingeschlossen oder auch nicht. Aber plötzlich gab es mehr Möglichkeiten. Møller beschloss, von vorne anzufangen. Er kehrte zu dem Hotel hinter dem Möllevångstorget zurück und richtete seinen Blick neu aus, ungefähr so, als würde er im Wald plötzlich beginnen, nach einer anderen Pilzsorte zu suchen.
Langsam, damit ihm auch ja nichts entging, schritt er die Parallelstraßen des Platzes ab. Backsteinhäuser mit kleinen Läden im Erdgeschoss. Es duftete nach orientalischen Gewürzen. Dann blieb sein Blick an einem Schild hängen: Schuhmacher Memo . Nur eine Tür und ein schmales Fenster. Er kannte diese Geschäfte. Der Inhaber war vermutlich Kurde, aber beherrschte sein Handwerk besser als jeder Däne oder Schwede. Eine Zunft, die einer entschwundenen Zeit angehörte, ein vorindustrielles Handwerk, das auszusterben drohte, wenn es die Fremden nicht mit neuem Leben erfüllten.
Er trat auf den kleinen Laden zu und öffnete die Tür. Hinter dem Tresen stand ein Mann mit Schnurrbart. Er schien Anfang vierzig zu sein. An einer Wand standen lange Reihen von Schuhen und Stiefeln mit Zetteln im Schaft. Schlüssel aller Art hingen an Haken an einem großen Brett. Eine elektrische Schleifmaschine und mehrere Apparate, deren Funktion Møller nicht kannte, standen an einer anderen Wand.
Der Mann fragte, womit er dienen könnte.
»Eine Tasche«, sagte Møller und zog Roccas Schlüssel aus der Tasche. »Die sich mit diesem Schlüssel öffnen lässt.«
Der Mann mit dem Schnurrbart nahm den Schlüssel und betrachtete ihn. Dann drehte er sich um und hob ein schwarzes Bordcase vom Fußboden hoch.
Es wirkte exklusiv und besaß ein stabiles Schloss, keines, das sich ohne weiteres mit einer Haarnadel öffnen ließ. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und
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