Der Geheimnistraeger
setzte sich auf einen Sessel. In ihr regte sich ein Wunsch, den sie vorher noch nicht verspürt hatte: Sie wollte Vincent Paulsen anrufen. Er würde ihr erklären können, was los war. Aber sie hatte seine Telefonnummer nicht. Man hatte ihr eingeschärft, niemanden anzurufen und nur Anrufe mit Kennworten entgegenzunehmen. Lydia war klar, dass sie gezwungen sein würde, abzuwarten, bis er sie anrief.
Als die Panzer am Brückenende Position bezogen hatten, steuerten die beiden Lastwagen auf die Fahrbahn und blockierten diese.
Die fünf schwarzen Minibusse fuhren zu dem großen Hotel am alten Hafen. Es hieß Hotel Kong Frederik und lag mitten in der Stadt an dem schmalen Sund, der Korsør zweiteilte, also ungefähr dort, wo die Schneidezähne im Unterkiefer des Schweins lagen. Mit entsicherten Sturmgewehren stürmten die Männer das Hotel.
Einer der Hotelgäste hieß George Woods. Er hatte gerade im Restaurant gefrühstückt und war in sein Zimmer im vierten Stock zurückgekehrt.
George Woods war amerikanischer Staatsbürger, 56 Jahre alt und nur vorübergehend auf Besuch in Korsør. Er hörte die Schüsse des Panzers, verstand aber nicht, woher sie kamen oder worum es sich handelte. Er hörte auch nicht die Schreie von der Rezeption, als die schwer bewaffneten Männer in das Hotel eindrangen und alle Ein- und Ausgänge blockierten.
In aller Ruhe erledigte Woods seine Morgentoilette. Anschließend wollte er im Zentrum einige Erledigungen machen und dann den Kilometer zum Golfplatz laufen.
32. Kapitel
Doris saß auf einem Bett in einem der Zimmer des Tagungshotels. Sie war allein und überlegte, wo sich wohl das Küchenpersonal aufhielt. Waren die Kolleginnen ebenfalls gefangen genommen worden, oder war ihnen die Flucht gelungen? Warum hielten sie sie nur gefangen? Wusste eigentlich überhaupt jemand, was los war? Wusste ihr Mann Bescheid? Ihr Sohn?
Ihre Hände waren mit Klebeband auf den Rücken gefesselt. Sie bewegte ihren rechten Arm. Dieser lag vollkommen gefühllos auf dem linken. Es erschien ihr unmöglich, sich befreien zu können.
Über ihren Augen saß eine Binde. Mit dem linken Auge konnte sie etwas Licht ahnen.
Die Männer hatten sie nicht brutal behandelt. Sie hatten nicht einmal bedrohlich geklungen, als sie ihr die Befehle erteilt hatten: »Go! Sit! Hands on your back!«
Warum hatten sie den Polizisten erschossen? Doris hätte weinen können, über ihn und über ihre eigene Situation. Aber nach den ersten Schluchzern beherrschte sie sich. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, das war ihre einzige Chance zu überleben. Überleben? Der Gedanke überwältigte sie. Würden sie sie ebenfalls erschießen? Wer waren sie? Was wollten sie? Warum, warum ?
33. Kapitel
Der Ministerpräsident pflegte normalerweise stets die Ruhe zu bewahren, aber jetzt konnte er weder stillstehen noch stillsitzen. Im Raum befanden sich sechs weitere Personen, die alle telefonierten. Vier Männer und zwei Frauen. Der Ministerpräsident ging auf und ab. Er ertrug es nicht, nichts zu wissen.
»Knud, verdammt, was ist los?«
»Einen Augenblick«, sagte der Mann, der Knud hieß, und machte eine abwehrende Handbewegung. »Gleich!« Er versuchte, sich auf sein Gespräch zu konzentrieren.
Einige Minuten später beendete er das Telefonat mit dem abhörsicheren Handy und wandte sich an seinen Chef. »Niemand weiß es. Diese Leute haben bislang, abgesehen von der Mitteilung über Megaphon, nichts verlauten lassen. Wir wissen nicht, was sie wollen.«
»Und die Waffen?«
»Der Oberbefehlshaber weiß nicht, wo genau sich alle Leopardpanzer befinden, sagt aber, dass einige am Brückenende stehen. Und mindestens ein Panzer steht an der E 20 östlich von Korsør. Dieser hat einen Warnschuss auf einen Streifenwagen abgegeben, der Richtung Stadt unterwegs war.«
»Was für ein Geschoss?«
»Eine Granate. Sie schlug zwanzig Meter vor dem Fahrzeug
in die Fahrbahn ein. Blechschaden. Den Polizisten ist aber nichts passiert.«
Ministerpräsident Rasmus Falck Pedersen schüttelte den Kopf. »Herrgott! Sie verfügen also auch über scharfe Munition. Wie ist das möglich? Die darf es doch beim Regiment gar nicht geben!«
»Nein … der Oberbefehlshaber weiß es auch nicht. Sie haben auch eine Granate aufs Polizeipräsidium in Korsør abgefeuert. Bei der Polizei in Slagelse ist der Anruf eines Zeugen eingegangen.«
Der Ministerpräsident schaute auf die Uhr. »Und was passiert jetzt?«
»Sehr viel mehr weiß ich nicht, außer dass man
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