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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
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großer Teil der Informationen stammt von unserem Mann. Vor einem Jahr jedoch verschwand er auf einer Reise im Nahen Osten. Wir glauben, dass er auf Befehl von Paolo Rocca ermordet wurde. Sie können also verstehen, dass wir dieses Subjekt, das uns immer wieder entkommen ist, endlich zu fassen kriegen wollen.«
    »Um was für eine Organisation handelt es sich?«, fragte Vincent.
»Ich will ganz am Anfang beginnen«, sagte Maresciallo Carlis. »Paolo Rocca gehörte während eines großen Teils der 90er Jahre zum anarchistischen Zweig der autonomen Bewegung in Bologna. Sie stänkerten ein wenig, waren aber im Großen und Ganzen harmlos. Junge Leute, die Häuser besetzten, und anderer Unfug. Dann erfolgte eine rasche Radikalisierung eines Teils der Autonomen. Das wissen Sie natürlich alles: Steinewerfen und Randale bei politischen und wirtschaftlichen Gipfeltreffen. Göteborg, Genua und so weiter. Für uns hat das nur mehr Arbeit bedeutet, mehr Observation und Infiltration. Wir haben vermutlich genauso gearbeitet wie Sie, um diesen Gewalttätern Einhalt zu gebieten.«
    Er verstummte einen Augenblick. »Bei Paolo Rocca verhält es sich aber noch etwas anders«, meinte er dann. »Rocca gehörte auch zu diesem fahrenden Volk, das dafür sorgt, dass den Glasern die Arbeit nicht ausgeht. Er hatte aber auch eine andere Agenda, wenn Sie mir diesen neumodischen Ausdruck verzeihen wollen. Er begnügte sich nicht damit, militanter Aktivist zu sein. Er veränderte sich. Es ist schwer zu sagen, weswegen, aber das entscheidende Ereignis scheint der Tod seiner Verlobten Francesca Brambini bei einer Aktion 1997 gewesen zu sein. Es handelte sich zwar nur um einen Unfall, aber anschließend …«
    Maresciallo Carlis erhob sich von seinem Stuhl, und Vincent machte sich auf einen längeren Vortrag gefasst. Carlis konnte die Geschichte offenbar auswendig, denn die Mappe lag immer noch ungeöffnet auf einem Stuhl.
    »Es begann damit, dass Rocca Bologna verließ, wo er sein ganzes Leben lang gewohnt hatte. Kurz nach dem Tod des Mädchens, er war damals sechsundzwanzig Jahre alt, zog er nach Mailand und wohnte in den Wohnungen verschiedener Aktivisten. Wir haben seinen Fall von unseren Kollegen in Bologna übernommen, aber anfänglich kümmerten wir uns nicht weiter
um ihn. Er war einfach einer von vielen. Aber dann bemerkten wir, dass er aktiver wurde. Er reiste mehr, traf verschiedene Leute. Unsere Verbindungsleute wussten zu berichten, dass er immer radikaler wurde. Wir hegten die Befürchtung, dass er den Schritt gehen würde.«
    »Welchen Schritt? Wohin?«, fragte Christian.
    »Den zum Terrorismus. Der Verdacht war nie konkret, wir wussten nicht, was er plante, und konnten deswegen nicht eingreifen. Im Nachhinein finden wir, dass wir hätten handeln müssen. Dann hätten wir ihn vielleicht stoppen können. So begann er mit einer Serie Banküberfälle. Vielleicht sollte ich mich korrekt ausdrücken: Wir glauben, dass er dahintersteckte. Ein Mann, von dem wir annahmen, es handele sich um Paolo Rocca, führte eine Anzahl Überfälle, die ihm und seinen Freunden recht viel Geld einbrachten, durch oder organisierte diese zumindest. Anschließend tauchte Rocca unter.«
    »Und das Geld?«, fragte Vincent. »Diente es dazu …«
    Carlis antwortete, noch ehe Paulsen die Frage ganz ausgesprochen hatte. »Das Geld wurde mit größter Wahrscheinlichkeit dazu verwendet, die Terrorzellen zu gründen. Diese Art von Aktivität kostet viel Geld. Es ist teuer, unterzutauchen. Rocca gelang es, etliche seiner autonomen Freunde anzuwerben. Diejenigen, denen es nicht schnell genug ging und die auch vor extremer Gewalt nicht zurückschrecken. Die Leute, die bei den Gipfeltreffen ganz vorne mitmischen und alles hassen, was Polizei und Gesellschaft repräsentieren.«
    Er öffnete die Mappe und blätterte in den Papieren. Etwas weiter unten lag eine Fotokopie mit acht Porträtfotos.
    »Alle in Roccas Umfeld sind Einwanderer der zweiten Generation oder Kinder von Migranten aus Süditalien wie Rocca selbst. Die meisten haben an der Uni studiert. Einige sind im Berufsleben gescheitert. Viele machen den Fehler, sie einfach
als Schläger abzutun und sie dem Abschaum zuzuordnen, der bei Fußballspielen Randale macht. Aber das ist falsch. Diese Leute sind politisch. Sie haben eine durchdachte Ideologie. Sie wissen, was sie tun und warum. Wir haben es mit enttäuschten, aber zielbewussten jungen Männern zu tun, die bereit sind, an ihre Grenzen zu gehen.«
    Maria Morale

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