Der Geheimnistraeger
unterbrach den Monolog. »Anfänglich hatte Rocca mit dem Rekrutieren nicht viel Erfolg. Aber nach den Angriffen in New York erlebte der Terrorismus auf der Welt eine Renaissance. Offenbar gibt es viele, die glauben, dass sich Terror lohnt, insbesondere nach den Bomben in Madrid. Sie führten schließlich zum Regierungswechsel in Spanien und zum Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak. Der Irak-Krieg hat ihr Weltbild einer neuen imperialistischen, von der Rüstungsindustrie gesteuerten Weltordnung verfestigt. Die USA stellen den Feind, das neue Rom.«
Sie verzog den Mund. »Rom, das ist etwas, worauf wir Italiener uns verstehen. Die Macht des Imperiums. Es ist nicht weiter merkwürdig, dass unser Land am Krieg im Irak teilnimmt.«
»Roccas Gruppe nennt sich ›Revolution jetzt‹, hat aber noch nicht sonderlich viel Schaden angerichtet. Kein Vergleich zur Brigate Rosse und der deutschen Roten-Armee-Fraktion in den 70er und 80er Jahren«, sagte Maresciallo Carlis. »Bislang zwei Morde, wenn man den Bekennerschreiben Glauben schenken kann. Ein Neonaziführer auf Provinzniveau 2001 und ein Beamter, der mit neuen Gesetzen zur Überwachung befasst war, 2003. Das ist alles und für eine Terroristengruppe, die diesen Namen verdient hat, nicht sonderlich viel. Uns macht Sorge, was noch kommen könnte.«
Vincent sah die beiden italienischen Sicherheitspolizisten an.
»Korsør«, sagte er. »Vielleicht sollte ja Korsør kommen?«
»Aber Paolo Rocca durfte dann also selbst nicht mehr daran
teilnehmen, falls Sie mit seinem plötzlichen Ableben recht haben sollten«, meinte Maria Morale. »Das ist interessant. Das wirft eine Reihe neuer Fragen auf. Warum glauben Sie, dass der Tote in Kopenhagen Rocca ist?«
Vincent erzählte von dem Ring, den sie auf dem Rådhuspladsen gefunden hatten und dass dieser sie nach Bologna geführt hätte.
»Aber sicher können wir uns nicht sein«, meinte Vincent. »Seine Identität ist noch nicht mit Sicherheit geklärt.«
»Wir haben seine Fingerabdrücke«, meinte Carlis, »aber da die Hände des Opfers fehlen …«
»Wir haben noch einen Teil des Abdrucks von seinem linken Daumen. Den haben wir von einem Schlüssel abgenommen, der in der Hosentasche des Opfers lag«, sagte Vincent. »Haben Sie denn kein DNA-Material?«
»Nein«, sagte Carlis. »Doch das lässt sich beschaffen. Aber das wird nicht sonderlich erfreulich.«
Vincent zog die Brauen hoch. »Seine Mutter«, sagte Carlis. »Soweit wir wissen, wohnt sie noch in Bologna. Wir müssen sie um eine Blutprobe bitten.«
Paulsen wandte sich an Christian.
»Wir wären uns in der Frage der Identität gerne sicher, bevor wir mit den Angehörigen sprechen«, meinte Vincent.
»Das verstehe ich«, erwiderte Maria Morale. »Ich schlage vor, dass wir die Fingerabdrücke sofort an Ihre Kriminaltechniker schicken, damit sie sie mit Ihrem Fragment vergleichen können. Sollen wir das tun und unsere Unterhaltung dann fortsetzen? Es gibt noch mehr zu erzählen.«
35. Kapitel
Mitten in der Fußgängerzone im Zentrum von Korsør befindet sich die Touristeninformation. Das Personal überreicht den Besuchern gerne eine Broschüre mit dem ebenso einfachen wie erhellenden Titel »Korsør«. Gleich im ersten Satz wird kundgetan, man befinde sich in einer gemütlichen Stadt. Einer Stadt am Wasser. Einer Stadt zum Wohlfühlen. Einer Stadt, die man besuchen oder in der man gut wohnen könne. In der es sich leben ließe.
Korsør: etwa 20 000 Einwohner, eine etwa 600 Jahre alte Stadt auf der Westseite der dänischen Hauptinsel Seeland, in früheren Zeiten geprägt vom Fährverkehr zu den Nachbarinseln Fünen und Langeland und zur deutschen Stadt Kiel auf dem europäischen Festland. Inzwischen geht ein Großteil des Verkehrs über die Verbindung über den Großen Belt, die aus zwei Brücken und einem Tunnel besteht, Gesamtlänge 18 Kilometer. Das längste Brückensegment ist 6790 Meter lang und hat eine Höhe von 65 Metern, damit der Schiffsverkehr durch den Sund nicht behindert wird. Die Brückenverbin-dung verknüpft die beiden Hauptregionen Dänemarks, Jütland-Fünen im Westen und Seeland-Lolland-Falster im Osten. Mit Fertigstellung der Brückenverbindung 1998 verwandelte sich ein gigantisches, hochkompliziertes Bauprojekt
in eine Selbstverständlichkeit, ohne die niemand mehr leben wollte.
Die Bewohner Korsørs integrierten die Brücke rasch in ihren Alltag, ihr Erwerbsleben und den Tourismus. Korsør wurde eins mit seiner Brücke. Hier lebten gute
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