Der Geheimnistraeger
fünfzehn Papillarlinien auf dem Schlüssel stimmten jedoch mit einem kleinen Ausschnitt des übersandten linken Daumenabdruckes überein. Die Folgerung sei, dass der Tote durchaus Paolo Rocca sein könne, dass eine definitive Identifizierung jedoch immer noch nicht möglich sei.
»Es hat ganz den Anschein, als müssten wir die Mutter aufsuchen«, sagte Paulsen und seufzte.
»Ein DNA-Test dauert«, bemerkte Christian. »Bis auf weiteres sollten wir davon ausgehen, dass es Rocca ist. Der Ring, der Fingerabdruck, sein militanter Hintergrund. Alles deutet darauf hin, dass es der Richtige ist. Oder was meinst du?«
»Ich rede mit Skov«, meinte Vincent. »Kannst du mich einen Augenblick entschuldigen?«
Christian verließ das Zimmer, das ihnen Maria Morale im Gebäude des Sicherheitsdienstes überlassen hatte, und ließ ihn allein. Vincent wählte Skovs Nummer auf dem Handy und erreichte ihn sofort.
»Hier herrscht absolutes Chaos«, sagte Skov. Seine laute
Stimme klang aufgeregt. »Eine fast hysterische Stimmung. Niemand kann es fassen. Die Regierung hält eine Krisensitzung ab, das Militär weiß nicht, was es tun soll. Thord Henning findet, dass es einstweilen noch eine Frage für die Polizei ist, aber weiß auch nicht, wie wir mit der Situation umgehen sollen. Fernsehen und Radio haben alle Sendungen unterbrochen und senden live aus der Gegend von Korsør, so nahe sie sich hinwagen. Sogenannte Experten bevölkern die Studios und streiten über die angemessene Taktik. Alle möglichen Analysen schwirren nur so durch die Luft. Die Flüchtlinge sind schockiert und verängstigt. Eben erst habe ich gehört, dass diese Typen in der Stadt herumfahren und Leute aus ihren Häusern mitnehmen. Niemand weiß, was sie wollen. Chaos, nichts anderes. Warte … danke … Vincent? Ich habe gerade eine Nachricht erhalten.«
Paulsen hörte Skov mit einem Papier rascheln.
»Die erste Nachricht der Besetzer: Sie verbieten den Bewohnern Korsørs, auf die Straße zu gehen. Im Hotel Kong Frederik haben sie vierzig Geiseln genommen. Beim kleinsten Gegenangriff werden diese Geiseln getötet. Alle Fahrzeuge und alle Personen, die sich der Stadt nähern, gelten als legitime Ziele und werden beschossen.«
»Mein Gott«, meinte Vincent. »Sagen sie denn nicht, was sie wollen oder wer sie sind?«
»Das hier ist alles«, sagte Skov. »Aber du kannst ja vielleicht von deiner Warte aus etwas Licht auf die Situation werfen. Unsere Kriminaltechniker haben die Fingerabdrücke ja verglichen. Unser Opfer scheint dieser Rocca zu sein. Aber wie hängt das alles zusammen?«
»Paolo Rocca scheint ein Anarchist gewesen zu sein, der sich in einen Terroristen verwandelt hat, zumindest haben er oder seine Gruppe einige Menschen aus politischen Gründen ermordet. Aber warum er selbst ermordet wurde, darauf weiß
auch ich keine Antwort. Die Kollegen hier vom Sicherheitsdienst wollen uns noch weitere Informationen liefern. Ich hoffe, dass es dabei auch um Roccas Kontakte geht. Vielleicht wird das Bild dann etwas klarer.«
»Berichte, sobald du mehr weißt«, sagte Skov. »Ruf sofort an.«
»Chef«, sagte Paulsen. »Im Hinblick auf die Situation bei euch würde ich gerne nach Hause zu meiner Familie. Am liebsten morgen.«
»Falls das geht, Paulsen. Falls das überhaupt geht.«
»Christian kann länger bleiben, falls das nötig sein sollte.«
»Mal sehen. Ruf an, wenn du mehr weißt.«
Paulsen blieb mit dem Mobiltelefon in der Hand sitzen. Er hatte seine Familie allein gelassen, als alles zusammengebrochen war. Nicht dass sie sich in direkter Gefahr befunden hätten, aber das konnten seine Kinder schließlich nicht wissen. Er wählte eine Nummer. Birthe war sofort am Apparat. Sie beruhigte ihn etwas.
Nach dem Gespräch mit seiner Frau dachte er nach. Er zögerte. Dann wählte er die Nummer der Frau in Korsør.
Lydia antwortete nach dem zweiten Klingeln. Sie klang aufgeregt. Vincent vermutete, dass sie sich danach sehnte, mit jemandem zu sprechen, vielleicht nicht unbedingt mit ihm, aber mit jemandem, der sich um sie sorgte. Er sah einen Menschen vor sich, der sich allein und verlassen fühlte. Er war sich nicht sicher, wie viel sie über das wusste, was um sie herum vorging, wie viel sie davon sehen konnte.
Er war verblüfft, als sie von dem vor ihrem Fenster geparkten Panzer erzählte. Ein Leopard, sagte sie. Sie kannte das Modell.
Ich kenne eine Frau, die einen Panzerwagen meint, wenn sie von einem Leoparden spricht, und nicht einen Webpelz,
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