Der Geheimnistraeger
Paulsen.
»Was?«
»Das mit den Fotos.«
»Was meinst du? Rocca in Damaskus? Unerwartet, aber nicht sonderlich merkwürdig. Der Terrorismus schafft neue Freundschaften.«
»Ich habe sie umgedreht«, sagte Christian. »Sie hatten Aufkleber auf der Rückseite.«
»Und?«
»Mit hebräischer Schrift.«
»Carlis sagte doch, er hätte sie vom Shin Bet bekommen«, sagte Vincent. »Vermutlich handelte es sich um irgendwelche Aktenzeichen oder eine einfachere Bildlegende.«
Paulsen wandte sich vom Fernseher ab und Christian zu. »Du kannst Hebräisch lesen, das wolltest du damit sagen?«
»Damit hatten sie vermutlich nicht gerechnet«, meinte Christian.
»Was stand da?«
»Dass der mit einem australischen Pass auf den Namen Sean Gino Bettany reisende Paolo Rocca sieben Minuten nach Anatolij Kagan in Fawas Abu Ghassans Haus in Damaskus eingetroffen sei.«
»Anatolij Kagan? Das klingt wie ein russischer Name.«
»Das ist er auch, aber mehr als das, es ist ein russisch-jüdischer Name. Noch dazu in Damaskus. Schon allein das ist bemerkenswert. In Carlis’ und Morales Darlegung kam Kagan aber nicht vor.«
Paulsen erhob sich und betrachtete die handgeschriebene Namensliste.
»Vielleicht ist er nicht so wichtig«, meinte Vincent.
»Carlis sagte, die Fotos seien sein wichtigster Beweis für Roccas Kontakte im Nahen Osten. Kagan war gleichzeitig dort. Unsere italienischen Freunde wollten also offenbar seinen Namen schützen.«
»Vielleicht handelt es sich ja um den Mann, den sie eingeschleust haben?«
»Wohl kaum«, erwiderte Christian. »In diesem Fall wäre der Name nicht auf dem Foto aufgetaucht.«
Paulsen ging im Hotelzimmer auf und ab und dachte nach. »Anatolij Kagan«, sagte er. »Kryptiere diesen Namen ebenfalls und übermittele ihn zusammen mit den anderen Namen.«
37. Kapitel
Zu Hause bei Espen klingelte das Telefon. Es war eine Stimme aus der Vergangenheit.
»Krogh?«, sagte diese Stimme.
»Ja«, antwortete Espen.
»Hier ist Wall. Ich müsste mit dir sprechen.«
»Sprich nur. Ich lege auf, wenn es mir zu viel wird.«
»Kannst du herkommen? Wir haben immer noch dasselbe Büro.«
»Was willst du?«, fragte Espen.
»Dass du herkommst.«
Espen dachte einen Augenblick lang nach.
»Krogh? Bist du noch dran?«, fragte Wall.
»Wann?«
»Sofort. Nimm ein Taxi. Wir zahlen.«
Stellan Wall erwartete ihn im Treppenhaus.
»Schön, dass du …«, begann Wall, unterbrach sich dann aber.
»Nüchtern aussiehst? Begrüßungsfloskeln waren noch nie deine starke Seite, Wall.«
Schweigend gingen sie die Treppen hoch. Wall ließ Espen den Vortritt in sein Chefbüro. Sie nahmen einander gegenüber am Schreibtisch Platz.
»Es ist ein Weilchen her«, meinte Wall.
»Über zwei Jahre. Ich kann nicht behaupten, dass du mir sonderlich gefehlt hättest.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit, Krogh. Gegenseitigkeit. Ich will sofort zur Sache kommen. Hätte ich entscheiden dürfen, dann würdest du jetzt nicht hier sitzen.«
»Ich verstehe, was du meinst«, meinte Espen. »Die Stühle sind wirklich unbequem, totaler Schrott. Du solltest sie austauschen. Aber wo ich jetzt schon einmal sitze, könntest du vielleicht zur Sache kommen?«
Wall erhob sich und ging im Zimmer auf und ab.
»Das werde ich«, sagte er. »Gleich. Nicht, dass es eine Rolle spielt, aber trinkst du immer noch?«
»Für mich spielt das eine verdammt große Rolle«, sagte Espen. »Ich habe an dem Tag aufgehört, an dem Janina Martinsson gestorben ist.«
»Wer ist das?«
Janina Martinsson. Die Frau in der Forex-Wechselstube. Die sechsundzwanzigjährige Tochter eines bosnischen Flüchtlings, die einen Schweden geheiratet, eine kleine Tochter bekommen und sich ein akzeptables Dasein geschaffen hatte. Bis zu dem Tag, als Espen in ihr Leben stolperte und dazu beitrug, dass es mindestens fünfzig Jahre zu früh zu Ende gegangen war. Espen war Walls Blick bislang ausgewichen, aber jetzt sah er seinen ehemaligen Chef an.
»Wenn du nicht weißt, wer Janina Martinsson ist, dann hat es auch keinen Sinn, dass ich dir etwas erzähle«, sagte er angewidert.
»Du bist also inzwischen nüchterner Alkoholiker?«, fragte Wall.
»Und du bist sehr neugierig«, erwiderte Espen.
»Wie gesagt, ist das hier nicht meine Idee, aber ich habe einen
Kunden, der darauf besteht, dass nur du diesen Auftrag ausführst.«
Espen Krogh zog die eine Braue hoch. Dass er auf dem Arbeitsmarkt noch gefragt war, überraschte ihn. Die letzten beiden Jahre hatte er sich
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