Der Geheimnistraeger
Gardinen zu sehen.
Die Stadt gefiel ihr in ihrer Stille. Jetzt gab es niemanden, der sie sehen konnte, die Flüchtlingsfrau, den unwillkommenen Gast. Dieses Gefühl war stark und fremd. Die Straßen gehörten einen schwindelerregenden Augenblick lang ihr. Sie ging in Richtung des schmalen Sundes zwischen dem südlichen und nördlichen Teil Korsørs. Dann blieb sie abrupt stehen. Auf dem Kai waren wie Schatten in dem schwachen Abendlicht Menschen in dunkler Kleidung zu sehen. Lydia glitt rasch hinter die Schmalseite eines Hauses. Sie drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass hinter ihr keine Sackgasse lag. Dann spähte sie vorsichtig um die Ecke. Drei Männer mit großen Maschinenpistolen patrouillierten auf dem Kai.
Sie kamen immer näher. Sie sah, dass sie Mützen mit Löchern für Augen und Mund über das Gesicht gezogen hatten, sie sahen aus wie schwarze Totenköpfe. Sie vermutete, dass die Masken eher Angst verbreiten als die Identität der Männer verschleiern sollten.
Die Männer blieben an der Kaikante stehen. Sie waren nicht mehr als fünfzig Meter von ihr entfernt. Zwei von ihnen schauten auf den Sund, öffneten den Reißverschluss ihrer Hosen und urinierten ins Wasser. Der dritte Mann ging einige Schritte von ihnen weg. In ihre Richtung.
Lydia erkannte mit einem Mal, dass sie zu lange stehen geblieben war. Sie war von den ruhigen Schritten des Mannes gebannt gewesen. Wenn sie in die entgegengesetzte Richtung floh, dann würde sie vielleicht entkommen können, aber nicht, wenn der Mann beschloss zu schießen. Sie drückte sich in einen Hauseingang und betätigte die Klinke. Es war nicht abgeschlossen. So vorsichtig wie möglich öffnete sie die Tür und schlich ins Haus. Dann schloss sie sie langsam, aber nicht ganz. Durch den Türspalt verfolgte sie den schwarzen Totenkopf mit dem Blick. Jetzt trennten sie nur noch wenige Meter.
Warum, wusste sie nicht. Es kam fast automatisch. »Pst«, zischte sie durch den Türspalt. Der Mann blieb sofort stehen. Sie sah, wie er erstarrte. Langsam wandte der Totenkopf seine Augenlöcher dem Geräusch zu. Sie drückte sich tiefer in die Dunkelheit. Der Schwarzgekleidete machte ein paar Schritte nach vorne, öffnete die Tür und trat ein. Das Treppenhaus war dunkel. Er hielt seine Waffe nach vorne gerichtet. Er atmete durch den Mund. Dann blieb er eine Sekunde lang reglos stehen. Sie griff nach seiner Mütze und zog sie nach hinten. Mit derselben Bewegung ließ sie das Messer seinen Hals entlanggleiten. Widerstandslos, die Klinge auf der Haut. Blut spritzte, und der Mann stürzte auf den Steinfußboden. Seine ausgestreckten Beine zuckten noch ein paarmal, dann war es vorbei. Lydia blieb noch einen Augenblick stehen, die Mütze in der einen, das Messer in der anderen Hand. Dann beugte sie sich rasch vor und zog die Maschinenpistole unter der Leiche hervor. Sie schaute durch die Tür. Die anderen Männer waren nicht zu sehen. Sie vermutete, dass sie noch auf dem Kai standen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihnen auffiel, dass ihr Kamerad verschwunden war.
Lydia überzeugte sich, dass die Waffe entsichert war. Es handelte sich um eine Kalaschnikow, eine AK 47, das überraschte
sie nicht, da sie ursprünglich für Panzersoldaten konstruiert worden war und von den Guerillasoldaten der Welt fleißig verwendet wurde. Es war also naheliegend, dass diese Waffe sich in den Händen eines Terroristen wiederfinden würde. Auch sie hatte eine solche Waffe schon verwendet. Dreißig Schuss im Magazin, vierhundert Meter Reichweite. Hervorragend für den Nahkampf geeignet.
Sie zog die Mütze über den Kopf, trat auf die Straße und ging rasch auf den Kai zu. Die zwei Männer standen ihr zugewandt da. Einer von ihnen sagte etwas, als sie sich näherte. Es klang wie ein Name. Als es nur noch etwa zehn Meter waren, senkte sie die Waffe und feuerte vier Schüsse in rascher Folge ab. Der eine Mann wurde rückwärts ins Wasser geschleudert, der andere stürzte auf die Kaikante. Sie rannte auf ihn zu, riss ihm die Waffe aus der Hand und kippte die Leiche anschließend ins Wasser. Sie sah sich um. Der Kai war menschenleer. Mit raschen Schritten kehrte sie in ihre Wohnung zurück.
39. Kapitel
»Sieht runtergekommen aus.«
Christian schaute die Fassade hoch. »Sehr runtergekommen. «
»Sie wohnt im sechsten Stock«, bemerkte Gaetano Gandini und rückte seine Krawatte zurecht.
»Bringen wir’s hinter uns«, sagte Vincent Paulsen.
Hinter ihnen donnerte ein vollbeladener Güterzug
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