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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
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hatte natürlich auf Euro gehofft«, meinte er dann. »Besserer Wechselkurs. Aber Dollar ist okay. Doch in diesem Fall
muss ich darauf bestehen, dass du auch für die Spesen aufkommst. «
    Wall nahm einen Umschlag vom Schreibtisch. »Hier ist das Flugticket nach Kopenhagen. Deine Maschine geht heute Abend. Auf einem Zettel steht die Adresse eines Hotels. Bleib dort den morgigen Tag über, geh nicht weg. Man wird mit dir Kontakt aufnehmen. In dem Umschlag finden sich zudem zehntausend schwedische Kronen, zwanzigtausend dänische Kronen und fünfzigtausend Dollar für eventuelle Ausgaben.«
    Espen nahm den Umschlag in Empfang.
    »Die Fremdwährungen kommen von Forex«, sagte Stellan Wall. »Bring das bitte glatt über die Bühne.«

38. Kapitel
    Lydia konnte nicht still sitzen. Immer wieder trat sie ans Fenster und schaute auf den Panzerwagen, der auf dem leeren Platz stand. Sie hatte einige Male gehört, dass der Motor angelassen worden war und dass sich die Ketten rasselnd auf den Pflastersteinen bewegt hatten. Der Fahrer war ein paar Meter gefahren und hatte seine Position verändert. Lydia vermutete, dass er alle daran erinnern wollte, dass sie noch da und allzeit bereit waren. Jederzeit kann geschossen werden . Einige Male tauchten bewaffnete Männer immer in Dreiergruppen neben dem Panzer auf. Manchmal fuhren Minibusse mit Lautsprechern vorbei. Allen, die sich im Freien zeigten, wurde der Tod angedroht. Einige Male hörte sie Schüsse, ein scharfes Knallen. Ein Geräusch, das sie kannte. Es kam von automatischen Waffen.
    Es begann zu dämmern. Ein Samstagabend … jetzt wohnte sie schon seit drei Monaten in der Stadt. Immer öfter hatte sie sich auf die Straßen Korsørs gewagt. Zweimal war sie mit den Leuten, die sie versteckten, ihren Wohltätern, ins Restaurant gegangen. Man konnte einfach nicht tagaus, tagein eingesperrt und eine Gefangene von Vorurteilen und unmenschlichen Gesetzen sein. Sie versuchte, geistigen Widerstand zu leisten. Sie wollte sich nicht als Jüdin im Warschauer Ghetto sehen, als Frau in einem Paschtunen-Haushalt oder als Palästinenserin
hinter den Mauern von Qalqilya. Sie war ein freier Mensch, und das war ihre wahre Natur. Nur die Umstände schränkten ihre Bewegungsfreiheit ein. Vorsicht, aber nie Unterwerfung. Dieser Art waren ihre Gedanken.
    Und jetzt … was in der Stadt geschah, verstand sie nicht. Gewalt. Männer, die sich entschlossen hatten, etwas zu nehmen. Solche Männer kannte sie nur zu gut. Sie hatte am eigenen Körper erfahren, wozu sie fähig waren.
    Sie schaute aus dem Fenster. Es war erstaunlich still. Sie hatte den ganzen Tag BBC gehört und sich im dänischen Fernsehen die Bilder angesehen. Sie wusste, dass Menschen getötet und in einem Hotel in der Nähe Geiseln genommen worden waren. In den Berichten hieß es, die dänische Regierung sei wie gelähmt. Niemand schien zu wissen, was zu tun war.
    Für sie selbst wäre es das Beste gewesen, einfach abzuwarten, das sah sie ein. Früher oder später würde die Erstarrung ein Ende haben. Was dann geschehen würde, konnte sie sich nicht recht vorstellen. Würde es werden wie in Abchasien, Tschetschenien oder Nordossetien, in ihrer kaukasischen Heimat, in der russische Sicherheitstruppen jede Geiselnahme mit wahlloser Gewalt beantworteten? Wie in Beslan?
    Lydia wusste nicht, wie sich die Dänen in solchen Situationen verhielten. Sie schaute wieder nach draußen und auf die Straße. Sie fühlte sich rastlos. Die Passivität der letzten Monate hatte sie angegriffen, ihr Dasein war unmenschlich. Sie lebte in der Illegalität, aber der Beschluss zur Flucht war immerhin ihr eigener gewesen. Jetzt stand ein Panzer vor ihrer Haustür. Was dort draußen geschah, ging sie an, war eine dunkle und lockende Kraft.
    Sie ging in die Küche und zog eine Schublade heraus. Dort lag ein Messer aus gehärtetem Stahl. Ohne nachzudenken nahm sie es heraus und ging in die Diele. Sie zog Joggingschuhe
und eine dünne Jacke an. Das Messer steckte sie in die Jackentasche. Sie öffnete die Wohnungstür und trat ins Treppenhaus. Dann ging sie ins Erdgeschoss und durch die Hintertür auf den Hof. Hier konnten die Männer im Panzerwagen sie nicht sehen.
    Rasch und lautlos ging sie an den Mauern entlang. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Einmal entdeckte sie jemanden an einem Fenster, ein Schatten, der eilig zurückwich, als sie sich umdrehte. In den Häusern brannte kein Licht, nur das blaue Flackern der Fernseher war hinter den vorgezogenen

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