Der Geheimnistraeger
Richtung Norden. Ausgedörrte Grasbüschel standen zwischen den Häusern. Die Balkonverkleidungen aus Beton waren nicht angestrichen. Das Haus war genauso trist wie Paulsens Stimmung. Es graute ihm vor der Unterhaltung, und er hoffte, dass Frau Rocca nur Italienisch konnte, so dass er sich nicht mit ihr unterhalten musste. Das Dolmetschen federte die Gefühle ab.
Sie hörten ihre Schritte hinter der Tür, aber es dauerte eine Weile, bis sie öffnete. Vincent vermutete, dass sie sie zuerst noch durch den Spion beobachtet hatte.
Die Frau vor ihnen war übergewichtig. Ihre Kleider waren sauber, wirkten jedoch abgetragen. Sie passt hierher, in ein altes Haus mit einer heruntergekommenen Fassade, dachte Vincent.
Gandini stellte sich mit seinem Polizeirang des Capitano vor.
Die Frau erwiderte ein paar knappe Worte. Paulsen verstand
nicht, was sie sagte, aber er sah ihre Miene und kam zu dem Schluss, dass Paolo Roccas Mutter wohl kaum zu den Freunden der Polizei gehörte. Hier würden sie um jede Unterstützung kämpfen müssen. Gandini ließ sich jedoch nichts anmerken, stellte ebenso höflich seine dänischen Kollegen vor und bat dann darum, eintreten zu dürfen. Die Frau trat einen Schritt auf sie zu und machte sich in der Tür noch breiter. Sie stemmte die Hände in die Hüften, und ihre Ellbogen erinnerten an zwei Flügel. Dann kam eine Auslassung, die Vincent als eine längere Version dessen deutete, was sie gerade vorher gesagt hatte. Nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, wiederholte Gandini friedlich und höflich ihre Bitte, eintreten zu dürfen.
»Es geht um Ihren Sohn«, meinte er noch. Christian übersetzte Vincent flüsternd diesen Satz.
Der Gesichtsausdruck der Frau veränderte sich. Aus Wut wurde Erstaunen und aus Erstaunen schließlich Trauer.
»Paolo?«, sagte sie leise. »Was ist mit ihm? Er hat mich schon seit vielen Jahren nicht mehr besucht.«
Gandini machte eine leichte Kopfbewegung in Richtung der Diele. Frau Rocca trat ein paar Schritte zurück und ließ die drei Beamten eintreten. Sie nahmen auf einer Couchgarnitur in einem Zimmer Platz, in dem leise der Fernseher lief. Vincent kannte die Sendung, weil es sie auch im dänischen Privatfernsehen gab: eine Quizsendung mit einem schrill lachenden Studiopublikum. Gandini griff zur Fernbedienung und stellte resolut den Fernseher ab.
»Frau Rocca«, sagte Gandini. »Wir müssen Ihnen eine traurige Nachricht überbringen. Wir befürchten, dass Ihr Sohn Paolo tot ist.«
Er gab ihr etwas Zeit, seine Worte zu verarbeiten, und fuhr dann fort: »Wir benötigen jedoch Ihre Hilfe, um uns ganz sicher sein zu können, dass es wirklich Ihr Sohn ist.«
»Wo ist er?«, fragte die Frau. Die Nachricht schien sie nicht merkbar erschüttert zu haben.«
»In Dänemark«, sagte Gandini. »Der Mann, den wir für Ihren Sohn halten, wurde ermordet.«
»Das waren die Araber!«, sagte sie laut. »Diese gottlosen Schlächter! Jesus Maria!«
Sie stand auf und begann wild zu gestikulieren. Ein Wortschwall ergoss sich aus ihrem Mund. Gandini versuchte behutsam, diesen Schwall einzudämmen. Als ihm das schließlich gelungen war, fragte er, welche Araber sie meine. Das führte zu neuen verbalen Attacken. Mitten in einem Satz brach sie ab und begann Klagelaute auszustoßen. Sie schlug sich mit den Fäusten auf die Brust, ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Rufe wurden immer lauter. Vincent befürchtete, sie würde zusammenbrechen. Aber bevor ihre Klagen weiter zunahmen, gelang es Gandini, sie zu beruhigen.
Drei Stunden später ließ sich Paolo Roccas Mutter eine DNA-Probe in einer Klinik am Stadtrand von Bologna abnehmen. Gandini wollte sie nach Hause fahren. Er brachte die Frau, die jetzt vollkommen allein auf der Welt war, zu seinem Wagen und forderte seine dänischen Kollegen auf, sich ein Taxi zu nehmen.
»Ich will noch eine Weile bei ihr sitzen«, sagte er zu Vincent und Christian.
»Araber«, sagte Vincent. »Hat sie etwas Bestimmtes damit gemeint?«
»Ich werde sie fragen. Aber ich glaube es nicht. Sie gab ihren Nachbarn die Schuld.«
Gaetano Gandini gab ihnen zum Abschied die Hand. »Die Ärmste«, meinte er. »Der Mann tot und die Tochter. Paolo war offenbar der Letzte, den sie noch hatte.«
Am nächsten Morgen um neun Uhr stand Vincent Paulsen auf dem Mailänder Flughafen. Er war auf dem Weg nach Hause nach Kopenhagen. Vincent hatte bei seinem letzten Gespräch mit Skov darauf bestanden. Er wollte nach Hause. Christian war einverstanden gewesen,
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