Der Geheimnistraeger
unscharfes Standbild auf.
»Mit den Haaren stimmt etwas nicht«, meinte er. »Sie sehen fast unnatürlich aus.«
»Vielleicht eine Perücke«, sagte Møller. »Vermutlich empfehlenswert, wenn man vorhat, jemanden zu ermorden.«
Vincent nahm das Band aus dem Videorekorder. »Zur Spurensicherung«, sagte er. »Die sollen uns ein paar Standbilder liefern. Und dann machen wir morgen weiter, wenn sie sich den Wagen näher angesehen haben.«
Møller nickte und machte das Licht aus. »Man könnte schon für weniger religiös werden«, meinte er.
48. Kapitel
Drei Flaschen standen in der Fensternische. Stofffetzen ragten aus den Flaschenhälsen hervor. In den Flaschen war Benzin.
Lydia hatte das Benzin am früheren Abend mit einem Schlauch aus einem Auto abgezapft. Jetzt saß sie da und wartete. Sie wartete nun schon seit Stunden darauf, dass der Panzerwagen zurückkommen würde. Das Fenster war halb offen. Sie hatte gelegentlich von fern das Dröhnen des Motors und das Quietschen der Ketten gehört, wenn sich diese in den Asphalt der Straßen gruben. Bei zunehmendem Lärm war sie mit dem Feuerzeug in der Hand ans Fenster getreten. Aber der Fahrer hatte jedes Mal einen anderen Weg eingeschlagen.
Sie hatte im Radio von den drei ermordeten Politikern gehört und von den drei Märtyrern der Besatzer. Sie lauschte den Mutmaßungen darüber, was mit den drei Märtyrern wohl gemeint sein könnte. Aber Lydia verstand: Sie hatten die Leichen gefunden. Den Mann auf der Treppe und die beiden im Wasser. Die Rache an den drei Dänen war natürlich unerfreulich. Aber nun herrschte Krieg. Ein Krieg forderte seinen Preis. Die Schuld trugen die Mörder. Sie sollten bezahlen.
Lydia sah ein, dass die dänische Regierung immer noch nicht zurückgeschlagen hatte und dass man wartete. Sie fragte sich, worauf. Verhandelten sie? Wussten sie nicht, wie sie agieren
sollten? Wollten sie die Gewalttäter hinhalten? Die Nachrichten gaben keine Antwort. Aber sie gedachte nicht zu warten.
Es war jetzt über eine Stunde vergangen, seit sie den Panzerwagen gehört hatte. Vielleicht ruhten sich die Männer aus. Es war eine ruhige Nacht, die Straßen waren menschenleer. Im Haus waren keine Geräusche zu hören. Sie wusste nicht, was ihre Nachbarn taten. Ob sie geflüchtet waren? Sie kannte sie nicht. Sie war eine Unperson, ein Mensch, den es nicht gab, auf der Flucht vor ihrer Wirklichkeit.
Da hörte sie, wie der Motor angelassen wurde. Der Panzer schien eine Straße weiter weg zu stehen. Sie zog das Feuerzeug aus der Hosentasche und öffnete das Fenster ganz. Sie wusste, worauf es ankam, sich zu konzentrieren, die Muskeln des Armes vollkommen unter Kontrolle zu haben und nichts zu überstürzen.
Der Panzer fuhr langsam die Straße entlang. Sie schaute aus dem Fenster. Die Luke des Geschützturms war geöffnet, aber der Kommandant war nicht zu sehen. Wahrscheinlich saß er im Panzer. Sie hatte Glück. Sie ließ das Feuerzeug aufflammen und wartete.
Als der Panzer zehn Meter entfernt war, ließ sie zwei der Lumpen aufflammen. Die eine Flasche hielt sie in der Hand. Sie beugte sich aus dem Fenster, zielte und warf. Die Flasche traf den Geschützturm direkt vor der Luke und zerbarst in einem Flammenmeer. Sie griff rasch die zweite Flasche und versuchte, besser zu treffen. Sie schleuderte sie auf den Panzer und sah, dass auch sie die Kante der Luke traf, aber von dort weiter ins Innere des Panzers fiel. Flammen schlugen hoch. Die Schreie aus dem Inneren klangen hohl. Dann zündete sie die dritte Flasche an und warf sie in den inzwischen stillstehenden Panzer. Die Flammen erleuchteten die Fassade auf der anderen Straßenseite.
Sie drehte sich um und nahm das Sturmgewehr. Dann stellte sie sich ins Fenster und zielte auf den Panzer. Einem der Männer gelang es, aus der Luke zu kriechen. Seine Kleider und seine Haare brannten. Sie erledigte ihn mit drei Schüssen, noch ehe er die Straße erreicht hatte. Dann wartete sie. Kein Mitglied der Besatzung versuchte noch ins Freie zu gelangen. Sie schloss das Fenster und legte sich dann möglichst weit hinten in der Wohnung auf den Fußboden. Sie wusste nicht, wieviel Munition sich in dem Panzerwagen befand.
Die Explosionen erschütterten das Haus und erleuchteten die Wohnung, als sei helllichter Tag. Lydia musste es sich nicht anschauen, sie wusste, wie es aussah. Eine Feuersäule aus der Luke, wie ein Vulkan.
49. Kapitel
Das Fernsehen berichtete bereits um halb vier Uhr morgens über den gesprengten
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