Der Geheimnistraeger
Panzerwagen. Verängstigte Leute aus Korsør hatten aus ihren Wohnungen, in denen sie gefangen waren, angerufen. Um halb sieben wurden Bilder gezeigt: Der Vorfall war von einem Beobachtungsflugzeug, das ständig im Luftraum über Korsør patrouillierte, gefilmt worden. Ein Militärsprecher wurde interviewt. Er glaube, dass den Terroristen im Panzerwagen ein Fehler mit der Munition unterlaufen sei. Eine andere plausible Erklärung hatte er nicht. Auch sonst niemand. Die dänische Polizei weigerte sich, die Sache zu kommentieren. Aus der Regierungskanzlei wurden anonyme Informanten zitiert, die angaben, die dänische Seite hätte den Panzer nicht gesprengt, man sei ebenso ratlos wie alle anderen.
Ein Unglück also. Aber ein willkommenes Unglück. Vincent war nicht der Einzige, der mitzählte und dachte: Jetzt sind es also nur noch neun.
Er spazierte von seiner Wohnung zum Polititorvet. Es war erst zwanzig nach sieben. Ein Montagmorgen, noch kaum Verkehr. Niemand wagte darüber nachzudenken, wie dieser Tag zu Ende gehen würde.
Sein Handy summte in der Jackentasche. Als er es hervorzog,
sah er, dass es sich um eine Telefonnummer in Korsør handelte. Er kannte nur eine einzige Person in der Stadt.
Er hörte Lydia lange zu, während sie ohne Unterlass sprach. Dann stellte er einige Fragen, anschließend versuchte er sie zur Vernunft zu bringen. Schließlich flehte er sie an. Er merkte, dass er nicht zu ihr durchdrang. Nachdem er sein Handy ausgemacht hatte, blieb er einen Augenblick stehen und schloss die Augen. Dann setzte er seinen Weg zum Polititorvet fort.
Um neun Uhr stand Ministerpräsident Rasmus Falck Pedersen am Rednerpult des Folketing. Er sagte, die Nation sei geschändet worden. Er sagte, das sei Dänemarks schwerste Krise seit dem Krieg. Er sagte, es sei undenkbar, das Böse siegen zu lassen. Er sagte, dass in dieser Zeit der Prüfungen die staatlichen Einrichtungen sich den Anforderungen gewachsen zeigen würden, die die Mitbürger berechtigterweise an sie stellten. Er sagte, das Volk müsse der Bedrohung von außen geeint entgegentreten. Darüber, was in den nächsten Tagen geschehen würde, sagte er sehr wenig.
Der Ministerpräsident sprach zwanzig Minuten. Dann verließ er raschen Schrittes Christiansborg, umgeben von Leibwächtern und ohne mit den Journalisten zu sprechen. Eine Frau trat ans Rednerpult. Sie war blond und hatte einen harten Zug um den Mund.
»Die Terroristen sprechen von Märtyrern«, sagte sie, »aber die Mitglieder unserer Partei sind die Märtyrer. Sie haben ihr Leben für das christliche Dänemark hingegeben. Sie wurden geopfert, weil sie es wagten, vor dem zu warnen, was jetzt geschieht. Das hier kommt nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, o nein! Das ist lange vorbereitet worden. Jetzt heißt es, Korsør sei besetzt worden, aber Korsør ist schon lange besetzt.
Von Iranern, Sudanesen, Türken, staatenlosen Palästinensern und anderen Fremden.«
Sie sprach flüssig und mit lauter Stimme.
»Diese Moslems nützen seit Jahren unsere christliche Sitte aus, die andere Wange hinzuhalten, und außerdem unsere gastfreundliche dänische Art. Aber jetzt zeigt es sich, dass sie das Trojanische Pferd sind, vor dem wir ständig gewarnt haben. Wir haben immer gesagt, wenn man die demographischen Kurven fortführt, erkennt man, dass sie zu guter Letzt in der Mehrheit sein werden. Dann sind wir Dänen gezwungen, in unserem eigenen Land im Ghetto zu leben. Jetzt scheinen diese Fremden nicht abwarten zu wollen, bis sie sich ausreichend vermehrt haben, das dauert vermutlich zu lange, jetzt wollen sie alles sofort.«
Einzelne Buhrufe waren im Plenarsaal zu hören, einige Folketing-Delegierte erhoben sich und gingen nach draußen, aber die meisten blieben sitzen.
»Wir haben gesagt, dass die Araber unsere Demokratie abschaffen wollen, wie sie das in ihren eigenen Ländern getan haben. Kann uns heute noch jemand widersprechen? Und die Gewalt! Die Terroristen in Korsør haben die Stadt mit äußerster Brutalität eingenommen. Aber soll man sich darüber wundern? Fragt nur die dänischen Mädchen, die einer jener Gangs in die Quere kommen, die eine Gruppenvergewaltigung für das höchste Vergnügen an einem Freitagabend halten. Fragt alle ehrbaren dänischen Ladenbesitzer, die von mit Messern bewaffneten Fremden ihres sauer verdienten Geldes beraubt wurden.«
Sie hob den Zeigefinger in die Luft.
»Davor haben wir die ganze Zeit gewarnt. Unser Land gehört uns nicht mehr. Im Augenblick
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