Der Geheimnisvolle Eremit
und Schluchzen heraus. »Es war gestern nach der Vesper. Ich habe gesehen, wie er sein Pony nahm und zur Vorstadt hinausritt. Ich dachte, er käme bald zurück, aber er kam nicht, und wir hatten Angst – wir wollten nicht, daß er erwischt wird, weil er sich schon oft in solche Schwierigkeiten gebracht hat – wir wollten es nicht erzählen, wir dachten, er würde schon zurückkommen, und niemand brauchte es zu erfahren…«
»Willst du mir damit sagen«, verlangte Paul entsetzt zu wissen, »daß er auch letzte Nacht schon abwesend war? Daß er seit gestern verschwunden ist und niemand ein Wort sagte?«
Ein frischer Schwall von Tränen der Verzweiflung benetzte Edwins gerötetes Gesicht, und er beantwortete die vorwurfsvolle Frage mit heftigem Kopfnicken.
»Und ihr habt es alle gewußt? Alle drei? Habt ihr denn gar nicht daran gedacht, daß er irgendwo verletzt liegen könnte, daß er in Gefahr sein könnte? Würde er denn freiwillig über Nacht ausbleiben? Oh, Kind, warum hast du nichts gesagt? Wir haben so viel Zeit verloren!« Aber der Junge war schon verängstigt genug, und nun konnte man ihn nur noch beruhigen und trösten, obwohl Trost und Beruhigung in dieser Situation schwer zu spenden waren. »Nun sag mir – du hast gesehen, wie er fortritt. Nach der Vesper? Hat er nicht gesagt, wohin er wollte?«
Edwin sammelte das bißchen Vernunft, das er noch besaß, und erzählte die Geschichte zu Ende. »Er kam zu spät zur Vesper. Wir waren unten am Fluß, er wollte nicht mit zurückkommen, und als er uns nachrannte, war es zu spät. Ich glaube, er hat gewartet, um sich uns nach der Kirche anzuschließen, doch Bruder Jerome hat im Gang gestanden und mit dem Mann gesprochen, der…«
Er begann wieder zu jammern und erinnerte sich an das, was er hätte nicht sehen sollen, was er aber natürlich bemerkt hatte: die Träger, die mit der Bahre zum Torhaus hereinkamen, den mächtigen Körper, der sich nicht mehr regte und dessen herrisches Gesicht bedeckt war. »Ich habe gestern bei der Schultüre gewartet«, flüsterte er unter Tränen, »und ich sah, wie Richard herausgerannt kam und in den Ställen verschwand, und dann kam er mit seinem Pony wieder heraus, er führte es eilig zum Tor hinaus und ritt fort. Und das ist alles, was ich weiß. Ich dachte, er würde bald zurückkommen«, jammerte er hoffnungslos. »Wir wollten nicht, daß er Schwierigkeiten bekommt…«
Und genau dadurch hatten sie ihm reichlich Zeit und Gelegenheit gegeben, sich in Schwierigkeiten zu bringen, die viel ernsterer Natur sein mochten, als jene, die sie vermuteten.
Bruder Paul schüttelte seinen Büßer resigniert und tätschelte seine Schultern, bis er wieder einigermaßen ruhig war.
»Ihr habt euch sehr dumm und närrisch benommen, und wenn ihr jetzt unglücklich seid, dann habt ihr das auch verdient.
Aber beantworte mir jetzt alle Fragen wahrheitsgemäß, dann werden wir Richard schon gesund und munter wiederfinden.
Geh jetzt und hole die anderen beiden. Wartet hier, bis man nach euch schickt.«
Und Paul stürmte sofort los, um die schlechten Neuigkeiten zunächst Prior Robert und dann dem Abt zu berichten und um sich zu vergewissern, daß das Pony, das Frau Dionisia als Köder für ihren Enkelsohn geschickt hatte, tatsächlich aus dem Stall verschwunden war. Dann gab es großes Gerenne und großen Lärm auf den Höfen, in den Scheunen und im Gästehaus, falls der Missetäter die Enklave doch nicht verlassen hatte. Vielleicht hatte er sich nur versteckt, war aus irgendeinem Grund heimlich zurückgekehrt und wollte nun die Tatsache vertuschen, daß er je fortgewesen war. Die jämmerlichen Schuljungen bekamen eine schreckliche Standpauke von Prior Robert zu hören, der ihnen prophezeite, daß ihnen noch einiges blühen würde, sobald man die Zeit dazu fand. Sie ließen schaudernd die Schultern hängen und weinten angesichts der schrecklichen Folgen ihrer vermeintlich guten Tat, und nachdem sie den ersten Ansturm der Vorwürfe überstanden hatten, ertrugen sie in stoischer Ruhe und ohne Abendbrot als Ausgestoßene den Rest des Tages. Nicht einmal Bruder Paul hatte Zeit, ihnen ein paar tröstende Worte zu sagen, denn er war vollauf damit beschäftigt, die vielen Verstecke in der Mühle und in den Straßen der Vorstadt abzusuchen.
In diese aufgeregte Geschäftigkeit ritt Cadfael am frühen Abend hinein, nachdem er sich am Tor von Hugh verabschiedet hatte. Noch an diesem Abend sollten Soldaten die Wälder von Eyton aus gen Westen
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