Der Geheimnisvolle Eremit
gelernt hatten, ihrem eigenen Gewissen überlassen. Bruder Jerome war fest überzeugt, daß kein Junge unter sechzehn freiwillig irgendeine Regel beachtete, und daß selbst jene, die ein reiferes Alter erreicht hatten, immer noch mehr vom Teufel in sich hatten als von den Engeln. Wäre er der Aufseher der Jungen gewesen, er hätte jede ihrer Bewegungen mißtrauisch beäugt und beobachtet. Er hätte häufiger gescholten und erheblich öfter zum Mittel der Züchtigung gegriffen, als es Paul in den Sinn kam. Es war ihm immer eine besondere Genugtuung gewesen, daß er die Katastrophen, die sich zwangsläufig aus einer derart laschen Führung ergaben, stets mit großer Treffsicherheit voraussagen konnte.
Drei Schuljungen und neun Novizen im Alter von neun bis siebzehn Jahren bieten dem mißtrauischen Auge beim Frühstück genug Betätigung, und es ist nicht auf einen Blick zu sehen, ob einer von ihnen fehlt. Jerome hätte sie sicher bei jeder Mahlzeit gezählt, weil er voraussah, daß irgendwann einmal einer fehlen würde. Bruder Paul zählte sie nicht. Und da er im Kapitel und danach bei Angelegenheiten gebraucht wurde, die sein Amt betrafen, hatte er den morgendlichen Schulunterricht einem verantwortungsbewußten Novizen anvertraut, was in Jeromes Augen abermals eine schädliche Aushöhlung der Disziplin war. In der Kirche saß die Bande auf rückwärtigen Bänken, wo einer mehr oder weniger nicht auffiel.
So war es schon später Nachmittag, als Paul seine Herde wieder ins Klassenzimmer scheuchte, die Novizen von den jüngeren Knaben trennte und Richards Abwesenheit endlich bemerkte.
Selbst in diesem Augenblick war Paul zunächst nicht besonders beunruhigt oder verwundert. Das Kind trödelte einfach irgendwo herum, hatte die Zeit vergessen und würde jeden Augenblick im Laufschritt eintreffen. Doch die Zeit verging, und Richard kam nicht. Auf Pauls Fragen scharrten die drei anderen Jungen unbehaglich mit den Füßen und rückten ein wenig näher zusammen, wie um sich gegenseitig zu stützen. Sie schüttelten wortlos die Köpfe und wichen Bruder Pauls Blicken aus. Besonders der Jüngste schien sehr unglücklich. Doch sie verrieten nichts, was Paul schließlich davon überzeugte, daß Richard in voller Absicht dem Unterricht fernblieb und daß die anderen dies sehr wohl wußten und mißbilligten, sich jedoch weigerten, ihn zu verraten. Daß er darauf verzichtete, ihnen angesichts ihrer Mitwisserschaft mit harten Strafen zu drohen, hätte Jerome in seiner Mißbilligung für Pauls Methoden nur bestärkt.
Jerome schätzte Klatschmäuler. Paul empfand eine heimliche Sympathie mit der sündigen Solidarität, die lieber selbst eine Strafe in Kauf nahm, als den Gefährten zu verraten.
Er erklärte einfach, daß Richard später für sein Verhalten zur Rechenschaft gezogen und für seine Dummheit bestraft werden würde, und fuhr im Unterricht fort. Doch er war sich der mangelnden Aufmerksamkeit und Unruhe seiner Schüler wohl bewußt, und er bemerkte, wie sie beim Lesen heimlich schuldbewußte Blicke wechselten. Als er sie entließ, glaubte er, der Jüngste stehe kurz davor, mit dem, was er wußte, herauszuplatzen. Seine Verzweiflung ließ vermuten, daß hinter dieser Verfehlung Richards mehr steckte als der Versuch, sich vor dem Unterricht zu drücken.
Paul rief den Jungen zurück, als die Schüler den Klassenraum verließen. »Edwin, komm doch mal zu mir!«
Verständlicherweise flohen die anderen beiden, denn sie waren sicher, daß ihnen gleich der Himmel auf den Kopf fallen würde und wollten diesem Naturereignis entgehen. Edwin blieb stehen, machte kehrt und schlenderte langsam durch den Raum zurück, die Augen niedergeschlagen und die kleinen Füße widerstrebend über die Dielenbretter schlurfend. Er blieb zitternd vor Bruder Paul stehen. Ein Knie war noch bandagiert, das Leinen hatte sich gelockert. Ohne nachzudenken wickelte Paul den Verband auf und zog ihn wieder fest.
»Edwin, weißt du etwas über Richard? Wo ist er?«
Das Kind platzte völlig glaubwürdig heraus: »Das weiß ich doch nicht!« und begann zu weinen. Paul zog ihn an sich und ließ ihn an seiner Schulter weinen.
»Sag es mir! Wann hast du ihn zuletzt gesehen? Wann ist er gegangen?«
Edwin schluchzte haltlos in die Falten der groben, wollenen Kutte, bis Paul ihn vor sich hielt und das verschmierte, verzweifelte Gesicht betrachtete. »Komm schon! Erzähl mir alles, was du weißt.«
Und es kam in einem Sturzbach zwischen verzweifeltem Schniefen
Weitere Kostenlose Bücher