Der Geheimnisvolle Eremit
praktischen Folgen diese Wendung hatte, suchte in seiner Erinnerung nach einem klaren Bild seines Vaters, dem er sich nun als würdiger Nachfolger erweisen mußte. Bei seinen seltenen Besuchen daheim zu Weihnachten und Ostern hatte man ihn bei seiner Ankunft und zum Abschied in ein Krankenzimmer gebracht, das nach Kräutern und vorzeitigem Alter roch, und ihm erlaubt, ein graues, strenges Gesicht zu küssen und einer tiefen, jedoch geschwächten Stimme zu lauschen, die ihn als Sohn bezeichnete und ermahnte, fleißig zu lernen und tugendhaft zu sein. Viel mehr fand er nicht, und selbst das Gesicht war in seiner Erinnerung verblaßt. Schüchternheit war das stärkste Gefühl, an das er sich erinnerte; sie waren sich nie nahe genug gewesen, um tiefere Gefühle entwickeln zu können.
»Du hast doch deinen Vater geliebt und dich nach Kräften bemüht, es ihm recht zu machen, nicht wahr, Richard?« drängte Bruder Paul ihn sanft. »Du mußt auch jetzt noch tun, was er sich wünschte. Und wenn du Gebete für seine Seele sprichst, werden sie auch dir ein Trost sein.«
»Muß ich jetzt nach Hause?« fragte Richard, der eher Informationen als Trost brauchte.
»Gewiß, zum Begräbnis deines Vaters. Aber nicht, um dort zu bleiben; noch nicht. Es war der Wunsch deines Vaters, daß du lesen und schreiben lernst und im Rechnen unterwiesen wirst. Und da du noch jung bist, wird der Verwalter dein Gut führen, bis du das Mannesalter erreichst.«
»Meine Großmutter«, begann Richard zu erklären, »hält es nicht für angebracht, daß ich lesen lerne. Sie war zornig, als mein Vater mich herschickte. Sie sagt, auf einem Gut braucht es nur einen belesenen Schreiber, und Bücher seien keine rechte Beschäftigung für einen Edelmann.«
»Aber gewiß wird sie sich den Wünschen deines Vaters fügen. Gerade weil er nun tot ist, trägst du eine heilige Verantwortung.«
Richard schob zweifelnd eine Lippe vor. »Aber meine Großmutter hat andere Pläne für mich. Ich soll die Nachbarstochter heiraten, weil Hiltrude keinen Bruder hat und Leighton und Wroxeter erben wird. Großmuter wird das jetzt noch mehr denn je wollen«, sagte Richard einfach und blickte unschuldig in Bruder Pauls leicht verblüfftes Gesicht.
Es dauerte einige Augenblicke, bis der Novizenmeister diese Neuigkeit verdaut und mit dem Eintritt des damals fünfjährigen Jungen in die Abteischule in Einklang gebracht hatte. Die Ländereien von Leighton und Wroxeter lagen zu beiden Seiten von Eaton und waren sicher eine große Versuchung. Aber Richard Ludel hatte sich offensichtlich nicht den ehrgeizigen Plänen seiner Mutter für den Enkelsohn gefügt, denn er hatte den Sohn außer Reichweite der Dame gebracht und ein Jahr später Abt Radulfus zu Richards Vormund gemacht, falls ihm selbst ein frühes Ende drohte. Der Vater Abt würde wissen, was zu tun war, dachte Bruder Paul. Aber er würde gewiß nicht zulassen, daß sein Schutzbefohlener, noch dazu ein Kind, zu selbstsüchtigen Zwecken mißbraucht wurde.
Sehr vorsichtig sagte er, den festen Blick des Jungen ernst erwidernd: »Dein Vater hat nicht gesagt, welche Pläne er für dich hatte, sobald du herangewachsen bist. Das wird sich finden, wenn die Zeit gekommen ist, aber es ist noch nicht soweit. Du brauchst dir in den nächsten Jahren noch nicht den Kopf über eine Heirat zu zerbrechen. Du stehst unter dem Schutz des Vater Abtes, und er wird tun, was das beste für dich ist.« Und er fügte, einer natürlichen menschlichen Neugierde nachgebend, vorsichtig hinzu: »Kennst du eigentlich dieses Kind – diese Nachbarstochter?«
»Sie ist kein Kind«, antwortete Richard verächtlich. »Sie ist schon ziemlich alt. Sie war schon einmal versprochen, aber der Bräutigam starb. Meine Großmutter war erfreut, weil Hiltrude, nachdem sie einige Jahre auf ihn gewartet hatte, nicht mehr viele Freier hat. Außerdem ist sie nicht hübsch, und deshalb bleibt sie für mich.«
Bruder Paul lief es kalt den Rücken herunter. ›Ziemlich alt‹ bedeutete wahrscheinlich höchstens ein paar Jahre über zwanzig, aber selbst dies war ein inakzeptabler Altersunterschied. Natürlich wurden recht häufig solche Ehen geschlossen, wenn es um Besitz und Land ging, aber sie wurden nicht gebilligt. Abt Radulfus hatte lange mit sich gerungen, ob er weiterhin Kinder auf Wunsch ihrer Väter ins Kloster aufnehmen sollte und schließlich beschlossen, keine Knaben mehr zuzulassen, solange sie nicht alt genug waren, für sich selbst zu entscheiden. Und
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