Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
eingefallen, dass sie noch heute Vater und Mutter hatte schreiben wollen. Die Eltern waren ohnehin schon so besorgt, da musste sie nicht auch noch mit ihrer Nachlässigkeit eine weitere Furche auf Vaters Stirn treiben. Sie öffnete ihre rote Kiste, warf Kleider und Bücher auf den Boden, bis sie Federhalter, Tinte und die Briefbögen gefunden hatte. Sie wollte, sie musste einfach berichten, wie gut alle zu ihr waren, und vor allem musste sie die Eltern noch einmal bitten, schnellstmöglich ihr Versprechen zu halten und unbedingt nachzukommen – bald, sehr bald.
Maximilian öffnete ihnen die Tür. Schon von außen sah das Fachwerkhaus aus wie daheim. Es stand in einer langen Reihe von Häusern, die sich untereinander kaum unterschieden. Alle hatten sie zwei oder drei kleine, der Straße zugewandte Fenster; der Haupteingang befand sich auf der linken Längsseite. Vor dem Haus lag ein winziger Vorgarten, den eine Rosenhecke zierte; hinter dem Haus dehnte sich ein gepflegter Gemüsegarten weit bis zur angrenzenden Weide aus, wo das Vieh graste.
»Hereinspaziert!« Maximilian breitete seine Arme aus und wies ihr den Weg ins Haus. Hinter ihm tauchte eine ältere Frau auf, das silbrige Haar streng unter der schwarzen Haube gescheitelt, die Hände vor der Schürze gefaltet. Sie stand gerade, nickte ihnen höflich zu. Maximilian schob die Frau sachte aus seinem Schatten nach vorne.
»Darf ich vorstellen? Elisabeth, nicht nur meine treuliebende Gattin seit mehr als vierzig Jahren, sondern auch die Seele dieses Hauses, wenn nicht sogar der ganzen Gemeinde.«
Elisabeth lächelte verhalten, streckte die Hand zum Gruß aus. Helene ergriff sie, knickste und berührte mit der Stirn den dargebotenen Handrücken.
»Willkommen in meinem Haus. Wir alle hoffen, dass du dich hier wie zu Hause fühlen wirst.«
Helene hörte im Nebenraum eine junge Frau auflachen, Elisabeth bemerkte ihren Blick.
»Das ist Anna, unsere Schwiegertochter. Bruder Gottfried unterhält uns schon seit einer Stunde mit Neuigkeiten aus der Heimat. Verzeiht uns, wir konnten es einfach nicht erwarten!«
Georg schüttelte den Kopf und küsste seine Mutter auf die Wange, während Maximilian Helene den Weg in die Stube wies, wo sich eine blasse junge Frau gleich erhob und auf sie zuschritt. Gottfried, der in einem schlichten Sessel saß, nickte ihnen wortlos zu und zog an seiner Pfeife.
»Du musst Helene sein. Willkommen, Schwester! Ich habe schon so viel von dir gehört und freue mich darauf, deine Freundin zu sein.«
Sie drückte Helene an sich. Maximilian räusperte sich.
»Gut, gut, nachdem wir das geklärt hätten, lasst uns zu Tisch gehen. Ihr müsst von unserer kleinen Reise sehr hungrig sein, ich jedenfalls bin es.«
Er strich sich über den flachen Bauch und brummte wie ein hungriger Bär.
Das Essen wurde in der Küche serviert, denn nur am heiligen Sonntag trug man das Mahl in der guten Stube auf, und heute war Samstag. Helene wurde der Platz neben Anna zugewiesen, die es sich nicht nehmen ließ, erneut ihrer Freude über den neuesten Gemeindezugang Ausdruck zu verleihen.
Annas Arm legte sich um Helenes Schulter, und sie zog den Gast an sich.
Helene versuchte ein unverkrampftes Lächeln, was ihr nicht recht gelingen wollte. Sie war ja froh über die herzliche Begrüßung, und diese Offenheit kam im Grunde ihrem eigenen Naturell entgegen, dennoch musste sie sich erst daran gewöhnen. Maximilian erhob sich zum Gebet, nahm die Hand seiner Frau und die seines Sohnes. Alle anderen taten es ihm nun gleich und hielten einander zur Rechten und zur Linken. Die Gesellschaft senkte den Blick, schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als Maximilian sein Gebet mit folgenden Worten schloss:
»Und so danken wir Dir, großer Gott, für die sichere Überfahrt unserer Schwester Helene und unseres Bruders Gottfried, die Dein Wille wohlbehalten zu uns geführt hat. Wir wollen in Ehrfurcht vor Deinem Entschluss und Deiner Weisheit dafür Sorge tragen, dass es ihnen an nichts mangeln wird. Gepriesen sei der Herr, Retter aller Seelen. Amen.«
»Amen«, wiederholte die Gesellschaft im Chor und bekreuzigte sich. Helene begann sofort, gierig die Suppe zu löffeln, tunkte gleichzeitig das Brot in den vollen Teller. Während des langen Gebets hatte ihr das kräftige Aroma der Fleischbrühe den Mund wässrig gemacht – Georg hatte recht, der herrliche Duft und der Geschmack erinnerten sie an das Essen daheim.
Plötzlich ließ Anna den Löffel in die Suppe
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