Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
zwei Wochen, so hieß es, würde der Pastor wieder bei ihnen sein. In der Zwischenzeit wollte sie sich in der Gemeinde eben anderweitig nützlich machen. Sie war schließlich auf einem Hof groß geworden, da sollte sich schon eine Betätigung finden lassen.
Helene streckte sich und gähnte. Sie war todmüde, dennoch schossen ihr so viele Eindrücke und Gedanken durch den Kopf, dass sie erst nach einer Ewigkeit einnickte. Sie träumte die absonderlichsten Dinge über ihre Schwester, so dass sie am Ende froh war, als sie aus dem Traum hochschreckte und für den Rest der Nacht wach lag.
Katharina, die sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie selbst war gerade erst sechzehn Jahre geworden, als der Vater die sechs Jahre Ältere vom Hof jagte. Ausgerechnet einen Katholiken hatte sich Katharina aussuchen müssen und sich durch nichts davon abbringen lassen, Matthias Jakobsen zu heiraten. Drei Jahre später war das Paar mit seinen Töchtern dem Ruf eines Freundes nach North Queensland gefolgt.
Und nun hatte das Schicksal es gewollt, dass es Helene ebenfalls nach Australien verschlagen hatte. Oder war es vielleicht gar nicht nur Schicksal? Wenn Helene es recht bedachte, hatte sie die eigene Abreise aus Deutschland sehr ehrgeizig betrieben. Fühlte sie sich unbewusst zur Schwester hingezogen? Wie auch immer, von Katharina blieb sie selbst hier in Australien noch immer unbegreiflich weit entfernt. Auf dem Schiff hatte sie den Kapitän gefragt, wie weit es von Südaustralien nach North Queensland wäre. Dreitausendfünfhundert Kilometer, hatte er geantwortet. Sie hatte Mühe, sich diese Entfernung auch nur vorzustellen. Der Kapitän wollte es ihr mit einem Vergleich veranschaulichen. Dreitausendfünfhundert Kilometer, das sei, so hatte er gesagt, etwas weniger als die Distanz zwischen Hamburg und Kairo. So weit wie nach Ägypten? Es wollte Helene nicht recht in den Kopf, wo sie und die Schwester doch bald in ein und demselben Land leben würden.
Trotz der seltsamen Gefühle, die sie beim Gedanken an Katharina beschlichen und wach gehalten hatten, war Helene nicht traurig, als der neue Morgen heraufdämmerte, denn hätte sie durchgeschlummert, wäre ihr womöglich der betörende Gesang der Vögel entgangen.
Sie rieb sich die Augen. Heute würde sie neue Energie für ihre Aufgabe schöpfen. Die letzten zwei Wochen waren wie im Flug vergangen. Pastor Johannes würde predigen und ihr eine Perspektive für ihr neues Leben geben. Sie war jetzt hellwach, zog aus dem Kopfkissenbezug den kaum mehr leserlichen Brief von Luise hervor und drückte ihn an ihr Herz. Heute würde sie erfahren, was es bedeutete, ein Teil des Himmels auf Erden zu sein. Ja, bestimmt würde sie auch endlich Luise treffen, doch ihre eigentliche Neugier galt dem spirituellen Herzen der Gemeinde, Pastor Johannes.
Helene hatte schon so einiges von seiner neuen Art zu predigen gehört, auch wenn die Alten daheim hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln begannen, wenn die Sprache auf Neu Klemzig kam. Sie wusste darüber zwar nichts Bestimmtes, doch sie war eine gute Beobachterin: Sie hatte viel Kopfschütteln auf den Bänken unter der Marktplatzlinde gesehen, wo die Alten immer saßen, und auch der Vater hatte die ein oder andere abfällige Bemerkung fallenlassen. Er hatte Helene erst nach langem Betteln ziehen lassen, nachdem Gottfried sich schließlich bereit erklärt hatte, die Tochter zu begleiten. Helene konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, aber gerade das hatte ihre Neugier geweckt.
Sie stand auf und schüttete den Inhalt des Krugs in die Waschschüssel. Mit beiden Händen schöpfte sie sich Wasser ins Gesicht, tastete dann mit geschlossenen Augen nach dem Handtuch. Sie zog ihr Nachthemd über den Kopf und begann, sich zu waschen. Dann schlüpfte sie in frische Unterwäsche, die sie nach einer Weile schließlich unter einem Stapel ihrer Bücher gefunden hatte. Hätte sie doch gestern bloß ihre Habseligkeiten ordentlich zusammengelegt und weggeräumt! Die Röcke waren zerdrückt, und sie würde ihren Sonntagsstaat einigermaßen zerknittert tragen müssen. Aber das war jetzt nicht zu ändern. Wenigstens hatte sie schon einen weiteren Brief an die Eltern geschrieben, und schon morgen würde er sich auf den Weg nach Europa machen, würde die Eltern noch einmal in ihrem Entschluss bestärken, sich ebenfalls auf die große Reise zu begeben.
Das sanfte Murmeln schwoll ein wenig an, als Gottfried und Helene die kleine Kirche betraten. Die
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