Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Hände.
»Na?«, fragte er und klang erwartungsvoll.
Natascha seufzte und wandte sich erneut dem Foto zu. Dann sah sie es. Wieso hatte sie das nicht schon vorher bemerkt? Helen Tanner trug das Amulett! Ihr Amulett. Beim genauen Betrachten konnte sie auf dem grobkörnigen Bild sogar ein paar Rillen auf dem Amulett erkennen, es war ungefähr zur Hälfte von Helens Hand bedeckt. Erstaunt sah sie Mitch an, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und sie zufrieden anlächelte.
Als sie gerade nach Moondo aufbrechen wollten, hielt Ruby Natascha am Arm fest.
»Ich will mich ja nicht in Ihre Reisepläne einmischen, aber bevor Sie gehen, sollten Sie sich unseren Schmetterlingsgarten anschauen. Bei dem wunderbaren Wetter heute würden Sie es todsicher bereuen, nicht wenigstens einen Blick auf die Ulysses geworfen zu haben.« Natascha sah Mitch an, der gleichmütig mit den Schultern zuckte.
»Geh nur, ich mache draußen so lange ein paar Telefonate.«
Natascha folgte Ruby zum Hinterausgang. Diese öffnete die Tür und wies mit dem Kopf in den Garten.
»Die Beete sind zurzeit nicht sonderlich gepflegt. Wir sind gerade auf der Suche nach einem neuen Gärtner.« Ruby zeigte auf eine halb verfallene Holzbank, die unter einem Fenster stand, von dessen Rahmen die letzte Farbe abblätterte. »Den besten Ausblick haben Sie von der Sitzbank aus. Vorsicht, ist ein bisschen wackelig. Bleiben Sie, solange Sie wollen. Falls Sie Fragen haben, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.« Damit drehte sie sich um und ging in ihr Büro zurück.
Natascha stieg die ausgetretenen Steinstufen hinab, und mit einem Mal war es ihr, als befände sie sich in einer anderen Welt. Sie drehte sich um die eigene Achse, um die Umgebung in sich aufzunehmen, und ließ sich dann auf die Holzbank sinken. Es kitzelte ihr in der Nase. Wahrscheinlich war sie gegen irgendetwas, das hier wuchs, allergisch. Oder war es der Zauber dieses versteckten Ortes, der das Kribbeln in ihr verursachte?
Vor ihr lag ein Garten, wie sie ihn sich verwunschener nicht hätte vorstellen können. Wie eine Illustration aus einem alten Märchenbuch, dachte sie. Dieser Garten war nicht nur »ein bisschen ungepflegt«, wie Ruby sich ausgedrückt hatte, sondern völlig verwildert. Aber in diesem Klima dauerte es ohne die ordnende Hand eines Gärtners wahrscheinlich nur ein paar Wochen, ehe die Natur sich ihr Territorium zurückholte und einen Garten in den Dschungel zurückverwandelte, der er einmal gewesen war. Natascha schätzte die Größe des Areals ungefähr auf ein Viertel eines Fußballfeldes, wobei sie sich nicht ganz sicher war, wo der Garten aufhörte. Das Grün wucherte viel zu dicht, um ihr einen Ausblick auf den begrenzenden Zaun zu gestatten. Ein verschlungener Kiespfad trennte sie von alten Obstbäumen. Der ausladende Mangobaum vor ihr trug so schwer an seinen überreifen, orangeroten Früchten, dass er einem schon leidtun konnte. Einige waren zu Boden gefallen, wo sie einen süßlich-fauligen Geruch verströmten. Ein Dutzend unscheinbar aussehender Vögel machte sich eifrig daran zu schaffen. Krächzend stritten die braungefiederten Tiere um die Ausbeute. Eine überalterte Kokospalme schaffte es gerade noch, den Mangobaum zu überragen. Ihre abgeworfenen Wedel hingen braun und welk in den verwilderten Büschen. Sonnenstrahlen brachen sich vielfach in dem unübersichtlichen Pflanzengewirr, und wenn der Wind in den Garten fuhr, begannen dunkle Schatten auf dem krausen Wuchs zu tanzen. Tropfen vom letzten Regenschauer lösten sich hier und da träge von den Blättern und fielen als schimmernde Perlen zur Erde. Aus dem Augenwinkel erspähte Natascha ein verwaistes Vogelbad. Sie stand auf und kniete sich davor, um es näher zu betrachten. Es trug die Figur eines Mädchens, von dessen Arm eine Puppe baumelte. Das Kind saß auf dem Beckenrand, die nackten Beinchen im Wasser, so als wäre die Schüssel ein See. Das feuchte Klima hatte dem Vogelbad und seiner Skulptur sichtlich zugesetzt. Auf der Wetterseite war es von einer schwärzlichen Schicht überzogen, wahrscheinlich Schimmel. Das Gesicht des Mädchens war schon nicht mehr zu erkennen.
Der Märchengarten jagte Natascha einen wohligen Schauder über den Rücken, und es hätte sie nicht weiter überrascht, hinter den wuchernden Rosenhecken tanzende Elfen zu entdecken. Was sie jedoch geradezu verzückte, waren die Schmetterlinge. Ruby hatte nicht zu viel versprochen. Erst nahm sie nur das metallische Blau wahr, das im Flug
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