Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
schließlich waren Erwachsene zugegen gewesen, als die Polizisten ein Kind nach dem anderen in ihr Auto gezerrt hatten. Amarina hatte sogar mit ansehen müssen, wie Cardinia noch die Hand nach ihr ausstreckte.
John Tanner saß auf dem Kutschbock, lud Helenes Truhe auf und trieb seine Pferde an. Helene war viel zu aufgelöst gewesen, um selbst daran zu denken, doch Tanner hatte ihr, so schonend er nur konnte, nahegelegt, dass es in Innisfail eine Weile dauern könnte, ehe sie etwas erreichten, und sie daher besser gleich ein paar Sachen für die Reise zusammenpackte. Hinter ihm saßen nun Helene und Amarina, die einander ängstlich bei den Händen hielten, bis die Finger taub wurden. Helene hatte sich bei Amarina für ihr Verhalten entschuldigt, und es tat ihr noch immer leid, wie sie die Freundin behandelt hatte. Auch ihr war schließlich das einzige Kind genommen worden.
Wie lange kannten sie einander schon? Sieben, acht Jahre? Lange genug jedenfalls, um Amarina als ihre beste Freundin bezeichnen zu können. Ihre besorgten Blicke trafen sich für einen Moment. Sie dachte wieder an Nellie und musste schwer schlucken. Es genügte, den Namen der Tochter zu denken, um ihre mühselig niedergehaltene Angst und Verzweiflung hochflattern zu lassen wie einen aufgeschreckten Spatz. Wieso nur hatte sie ihre Tochter allein zum Spielen zu den Orta gehen lassen? Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nellie – sie war doch erst vier. Wo war sie, wie ging es ihr? Die Kleine würde nach ihr rufen, und zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben wäre die Mutter nicht da, um ihr süßes Mädchen tröstend in die Arme zu schließen.
Helene drückte sich die Handballen gegen die Schläfen. Das strähnige Haar klebte ihr an den Wangen. Düstere Ahnungen breiteten sich in ihrem Schädel aus wie schwarzer Schimmel. War das der Preis, den sie für ihre Liebe zu zahlen hatte? Dass man ihr das einzige Kind wegnahm?
Helene zwang sich, diese Gedanken nicht übermächtig werden zu lassen. Es war wichtig, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. Wenn sie ihre Tochter finden wollte, musste sie sich zusammenreißen. Sie musste herausfinden, wer Nellie und die anderen Mädchen entführt hatte und wo sie jetzt waren.
Tanner glaubte, die Polizeistation in Innisfail sei der beste Ort für erste Erkundigungen. Von Amarina erfuhr sie, dass die Polizei den Aborigines schon öfter Kinder weggenommen hatte. Helene mochte das nicht glauben. Das ergab doch alles keinen Sinn. Warum sollte die Polizei Müttern ihre Kinder entreißen? Amarina hatte keine Antwort auf ihre Fragen. Sie war dem Auto, in das man die weinenden Mädchen gezerrt hatte, noch lange nachgelaufen, hatte geschrien und die Arme nach ihnen ausgestreckt. Doch dann war der Wagen hinter einer Kurve verschwunden und hatte nichts außer einer Wolke roten Staubes hinterlassen.
Die meiste Zeit während der Fahrt schwiegen die Frauen, jede hing ihren bedrückenden Gedanken nach, ab und zu brach mal die eine, dann die andere in ein Schluchzen aus, und dann umarmten sie einander. John Tanner vermied es, sich nach ihnen umzudrehen, und schwieg ebenfalls. In Innisfail angekommen, machte er vor der Wache die Pferde fest und half den Frauen aus der Kutsche. Amarina trug Helenes altes Baumwollkleid. Es war ganz fleckig. Die schwüle Hitze hatte ihr Haar in dunkle Zuckerwatte verwandelt. Helene versuchte, es zu bändigen, indem sie es mit dem Taschentuch lose zusammenband, und sie fand, dass ihre Freundin einen recht passablen Eindruck machte. Sie sah an sich herunter, strich den Rock glatt und folgte Tanner, der ihnen die Tür aufhielt. Es war abgemacht, dass er vorsprechen sollte. Helene sprach nach all den Jahren in Australien zwar ein gutes Englisch, doch da es nicht ihre Muttersprache war, fand sie es nur recht und billig, dass Tanner diese Aufgabe übernahm. Dem Wort eines Mannes würde zudem zweifellos größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Und deshalb hatte Tanner ihr eingeschärft, sich im Gespräch mit den Beamten zurückzuhalten, auch wenn es noch so schwerfiele.
Das Herz schlug Helene vor Aufregung schmerzhaft gegen die Rippen, als Tanner mit der flachen Hand auf die Klingel schlug, die auf dem Tresen stand. Herrgott, John war doch nur ein irischer Bauer. Was konnte er schon groß mit Worten ausrichten? Ein Blick auf die Freundin verriet ihr, dass es Amarina nicht anders erging. Am liebsten hätte sie lauthals nach Nellie gerufen, doch sie war sich im Klaren, dass dies nicht eben
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