Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
nicht liebte.
Plötzlich schoss ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf, der sie an die Schläfen greifen ließ. Unter den Fingerspitzen konnte sie fühlen, wie das Blut dicht unter der Haut hämmerte. Sie rieb sich die Seiten, doch der Schmerz wollte nicht nachlassen.
»Hier. Ein Becher Wasser. Geht es dir inzwischen besser?«, fragte Anna teilnahmsvoll.
Helene nickte reflexartig und nahm einen großen Schluck. Sie wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tropfen aus dem Mundwinkel und atmete erleichtert auf.
»So blass habe ich dich noch nie gesehen. Komm, setz dich!« Anna machte Anstalten, sich auf den Boden zu setzen, doch Helene schüttelte den Kopf.
»Danke, es geht schon wieder.« Wie um sich dessen zu vergewissern, sog sie tief die frühabendliche Luft in ihre Lungen. Dieser mittlerweile so vertraute Geruch von strohigem Gras, ein herber Duft, darüber die frische Note des allgegenwärtigen Eukalyptus, und aus der Siedlung stieg ihr der verlockende Geruch saftigen Bratens in die Nase. Bis auf das vor sich hin brutzelnde Schwein am Spieß duftete es hier auf den Hügeln Südaustraliens ganz anders als in Preußen, und dennoch: Für Helene war das bereits der Geruch von Heimat.
Annas Griff nach Helenes Schultern riss sie aus den Gedanken. Anna sah sie ernst an.
»Hör zu, Helene. Ich will nicht, dass du denkst, ich dränge dich zu irgendetwas, was du nicht willst. Ich glaube zwar, dass du und Georg das perfekte Paar wärt, aber die Entscheidung liegt natürlich bei dir, bei euch, meine ich.«
»Danke, Anna. Du meinst es gut, das weiß ich.«
Anna lächelte: »Natürlich meine ich es gut. Ich will für alle das Beste, für dich und Georg, für uns alle eben. Was denn sonst?« Sie versicherte sich nochmals, dass es Helene gutging, bevor sie sich zu ihren Schwiegereltern gesellte. Elisabeth wiegte ihren Enkel im Arm. Aus der sicheren Entfernung blickte Helene hinüber zu den Brüdern. Warum konnte sie Georg nicht lieben? Alles wäre so einfach.
Sie rieb sich wieder die pochenden Schläfen. Die Sonne stand schon tief, die trockenen Grashalme reflektierten das goldene Licht. In der Ferne blökten ein paar Schafe wie erleichtert darüber, dass sich die Luft ein wenig abgekühlt hatte. In der Myrtenheide neben ihr hatte sich ein geschwätziges Finkenpaar niedergelassen, die Nähe zu Menschen schien es nicht im Geringsten zu stören. Helene wollte diesen friedvollen Augenblick nicht vergessen, wollte ihn sich ins Gedächtnis brennen.
Helene lag schon auf ihrem Lager in der Schreibstube des Schulhauses, als sie hörte, wie die ersten Gäste versuchten, es sich auf den Strohsäcken bequem zu machen.
»Au, pass doch auf, wo du hintrittst.« Sie hörte etwas umfallen, jemand kicherte. »Psst, leise! Helene schläft bestimmt schon.«
Helene setzte sich auf und schaute hinaus auf die Veranda. Sie hatte eine Kerosinlampe in ihr offenes Fenster gehängt, damit die Gäste sich zurechtfanden. Im schwachen Schein erkannte sie in der Gruppe den Diakon mit seiner Frau Hilde, die kichernd etwas vom Holzboden aufhob. Helene legte sich schnell wieder hin. Sie wollte nicht gesehen werden, denn ihr war nicht nach Unterhaltung zumute. Als die Kopfschmerzen nicht besser werden wollten, hatte sie das Fest schnell verlassen. Es tat ihr leid, denn die Stimmung war ausgesprochen gut, ja nahezu ausgelassen, wie man es unter Lutheranern nur selten erlebte. Von diesem Fest würde man noch lange reden. Es wurde gegessen, getrunken und gelacht, dann tanzten die Jungen und schließlich sogar die Alten. Die Ablenkung hätte ihr sicherlich gutgetan, zumal Georg tatsächlich auf Abstand hielt. Ein-, zweimal hatte sie bei Tisch seinen Blick gespürt, verstohlen von der Seite, doch er schien zu merken, dass sie auf Distanz bedacht war, und schließlich hatte sie ihn den Rest des Abends nicht mehr gesehen. Sie wartete der Höflichkeit halber noch ab, bis Johannes seine Ansprache an die Gäste aus Adelaide beendet hatte, musste dann aber einsehen, dass es mit ihrem Kopfschmerz keinen Sinn mehr hatte, und zog sich früh zurück.
»Ist alles in Ordnung bei euch da vorne, Ferdinand?« Helene schlug die Augen auf. Johannes hatte das gefragt.
»Ja, wenn ich mal davon absehe, dass meine Holde wohl mehr Wein als Wasser getrunken hat.«
Johannes lachte.
»Wie redest du denn von mir?«, sagte Hilde mit unsicherer Stimme. »Als wäre ich eine Trinkerin.« Wieder schepperte es.
»Ruhe jetzt. Du legst dich sofort hin, bevor du noch den gesamten
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