Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
gab ihr Gelegenheit, ihm etwas genauer auf die Finger zu sehen.
»Beschützer« – wie Hohn erschien Helene jetzt die Bezeichnung, die ihr Vater Gottfried gegeben hatte. Nach all den Monaten, in denen sie ihn besser kennengelernt hatte, konnte sie nun wirklich nicht sagen, dass sie sich von ihm sonderlich beschützt fühlte. Eher im Gegenteil: Wenn er sie mal nicht für ihr Verhalten oder ihre Arbeit kritisierte, was nur zu häufig vorkam, dann wurde er auf eine Weise nett zu ihr, die sie vor Widerwillen schaudern ließ. Er strich dann um sie herum wie ein räudiger Hund um den Knochen, mit vor Speichelfäden triefenden Lefzen, nur auf eine Gelegenheit lauernd, um zuzuschnappen. Er wollte etwas von ihr, so viel war sicher, doch was er wollte, was dieser »Knochen« war, um den er bei diesen unangenehmen Gelegenheiten immer enger werdende Kreise zog, darüber war Helene noch immer im Zweifel.
Sie hatte Zugang zu allen Aufzeichnungen der Gemeinde. War es das, was ihn so anzog? Andererseits konnte er in die Kirchenbücher doch selbst Einsicht nehmen, es war ihm als Kirchenälterem gestattet. Was wollte er? Und was trieb er? Dieses schwarze Büchlein zum Beispiel, in das er so fleißig Eintragungen machte und das er stets in seiner Westentasche trug, wenn er nicht gerade mit seinem Federhalter über die Seiten kratzte. Was sollte das?
Und dann Anna und Georg. Wieder kam Helene die Szene in den Sinn. Und auch jetzt, da sie zum wiederholten Male daran dachte, was sich vor kaum zwei Stunden im Schulhaus zugetragen hatte, überkam sie so etwas wie Atemnot. Sie schien einfach nicht genügend Luft zu bekommen. Aus Gründen der Schicklichkeit konnte Helene ihre Bluse unmöglich noch weiter aufknöpfen, als sie es eh schon gewagt hatte, und fächelte sich deshalb mit beiden Händen die heiße Luft ins Gesicht.
»Soll ich dir einen Schluck Wasser bringen?« Die besorgte Stimme gehörte Anna, die ihr überraschend und fast zärtlich eine vom Wind getrocknete Strähne hinters Ohr strich.
»Wasser – das wäre sehr lieb, ja.« Helene nahm ihren Mut zusammen und sah Anna an. In ihrem Gesicht fand sie nichts außer Freundschaft, Liebe und Wärme. Keine Spur von Unverständnis oder gar Verärgerung.
»Ich wünsche uns allen eine besinnliche Fastenzeit. Nutzen wir sie, um uns auf das zu besinnen, was im Leben wirklich zählt – auf das, was uns vor allen anderen Dingen wichtig ist. Die Liebe zu Gott und den Menschen. Amen.« Diese letzten Worte von Maximilians Predigt drangen auch bis zu Helene durch. Die Gemeinde wiederholte das Amen und bekreuzigte sich.
»Und jetzt lasst uns ordentlich mit Braten und Wein feiern. Von dieser Erinnerung werden wir eine ganze Weile zehren müssen. Es sei denn, ihr gehört zu denen, über die sich Luther in seinem Sermon von den guten Werken auslässt, wo er sagt: Ich will jetzt davon schweigen, dass manche so fasten, dass sie sich dennoch vollsaufen; dass manche so reichlich mit Fischen und anderen Speisen fasten, dass sie mit Fleisch, Eiern und Butter dem Fasten viel näher kämen … «
Ein leises Lachen ging durch die Runde, das der Wind über die Weizenfelder trug. Dann griff Johannes zur Gitarre und begann zu singen; nach und nach fielen alle ein. Er saß auf einer Kiste links vom Vater, neben ihm Georg. Johannes nickte dem Bruder zu, der mit der zweiten Stimme in das Lied einstimmte. Sie lächelten sich an.
Vielleicht glaubte Georg immer noch, dass er sie für sich gewonnen hatte? Helene wusste es nicht; sie würde abwarten müssen, ob er nochmals auf sie zukäme. Heute wollte sie ihm keinesfalls mehr begegnen. Nur gut, dass er mit seinen Eltern bei Gottfried übernachten würde. Wenn sie es sich recht überlegte, war Georg schüchtern, er hatte ja auch eben im Schulhaus kein einziges Wort gesagt, nachdem Anna zu ihnen gestoßen war. Ohne das Zutun der Schwägerin hätte er ihr wahrscheinlich nicht offenbart, wie es um ihn stand. Gesagt hatte er in dieser Hinsicht ja sowieso nichts, es war nur sein Verhalten, das ihn verriet. Wie Anna und er sich angeschaut und vor Freude gedrückt hatten.
Immerhin wäre es doch möglich, dass er dies mittlerweile schon bereute. Helene fasste neuen Mut. Sie wollte es darauf ankommen lassen. Solange er sie nicht auf den heutigen Vorfall ansprach, erschien es ihr am besten, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Falls er aber, was Gott verhüten möge, am Ende gar um ihre Hand anhalten sollte, musste sie ihm die Wahrheit sagen: dass sie ihn
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