Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
klug, diese Treiber. Aber was machen wir denn nun?« Ihre Stimme klang verzweifelter, als sie es in Wirklichkeit war. Was sollte ihnen schon passieren? Sie hatten warme Decken, der Wilga-Baum mit seinem dichten Blätterwerk würde den leichten Nieselregen weitgehend abhalten, und frieren würde es heute Nacht wohl auch kaum.
»Gleich morgen früh reite ich zum nächsten Hof und borge uns ein paar Kleider. So wie es aussieht, müssen wir die Nacht hier verbringen. Ängstigt dich das?«
»Nicht im Geringsten.« Sie lächelte und sie meinte es ernst. Eine Nacht neben Johannes zu verbringen, in der sie völlig ungestört über Gott und die Welt reden könnten, das war die schmutzigen Füße und ein klatschnasses Kleid schon wert. Sie setzten sich nebeneinander ins Gras.
»Hör zu, es tut mir leid, dass ich dich in diese Situation gebracht habe.«
»Schon gut. Es macht mir nicht viel aus.«
»Ist dir kalt?«
»Ein wenig, ist aber nicht weiter der Rede wert.«
Johannes rückte näher an sie heran, um ihr einen Teil seiner Decke um die Schulter zu legen.
»Besser so?«
Sie nickte. Zwischen den grauen Schleiern am Himmel zeigte sich hier und da der aufgehende Vollmond, kaum ein Stern war zu sehen. Der Regen hatte nun fast vollständig nachgelassen, doch noch immer nieselte es. Helene hatte sich an den Stamm gelehnt und schloss die Augen. Sie zog die Decke noch ein wenig fester und atmete bewusst die frische Luft des nahenden Abends ein. Sie roch so gut, nach fetter Erde. Dem Winterweizen hatte der kräftige Guss sicherlich sehr gutgetan. Mit Gottes Hilfe würde die Ernte in diesem Jahr reichlich ausfallen. Sie hoffte es so sehr, dann würden ihr nämlich die Bauern den hohen Landpreis, den sie heute ausgehandelt hatte, nicht weiter nachtragen.
Die Pferde wieherten zufrieden. Ihre beruhigenden Rupf- und Zupfgeräusche wurden hin und wieder vom leisen Schütteln ihrer Mähnen unterbrochen, dem in der Regel ein Schnauben folgte. Sie waren daran gewöhnt, dort zu grasen, wo man sie vom Zügel ließ, und würden nicht weglaufen.
»Wovon träumst du, Helene?«
Helene wandte ihm das Gesicht zu. Die Dämmerung ließ seine scharfen Konturen weicher wirken und spiegelte sich sanft in seinen Augen. Ein tiefblauer See, in dem sie ertrinken könnte …
»Helene?«
Sie rief sich aus ihren Träumereien.
»Was … Wie meinst du das?«
»Wovon träumst du? Was willst du in deinem Leben erreichen?«
»Wieso fragst du mich das? Stimmt etwa was nicht mit meiner Arbeit?« Helene war alarmiert. Er zog sie freundschaftlich an sich und verzog seine vollen Lippen zu einem stillen Lächeln, das seine ebenmäßigen Zähne entblößte.
»Wo denkst du nur immer hin? Wir wären ohne dich doch völlig verloren. Jeder Einzelne in der Gemeinde weiß, dass ich nicht einmal eins und eins richtig zusammenzählen kann.« Er lachte bei dem Gedanken auf. »Nein, du leistest Großartiges für uns alle. Und das weißt du auch. Aber gerade weil du dich so für die Gemeinde plagst, will ich dich wenigstens ein einziges Mal fragen, was du dir selbst wünschst.«
Helene wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, doch sein Anliegen berührte sie. Niemand hatte sie jemals gefragt, was sie eigentlich vom Leben wollte. So war sie nicht erzogen worden. In Salkau sollte sie den Eltern helfen, den Hof zu führen; ob ihr das gefiel oder nicht, hatte nie zur Debatte gestanden. Es war schlicht das, was man als Kind tat. Nur ein einziges Mal musste sie ihren eigenen Willen unbedingt und gegen alle Widerstände durchsetzen, nämlich als sie von den Lutheranern in Südaustralien gehört hatte. Dieser Brief der Fremden aus Neu Klemzig, den ihr die Freundin zu lesen gegeben hatte, war der Auslöser gewesen.
Seither hatte sie an nichts anderes mehr denken können, als dass sie unbedingt auch dorthin wollte. Zum ersten Mal im Leben hatte sie genau das getan, was sie wollte, und es war goldrichtig gewesen. Ihr Leben war erfüllt. Was sollte sie also noch wollen, was sie nicht schon hatte? Doch Johannes’ Frage hatte etwas in ihr geweckt. Ja, ihre Aufgabe füllte sie aus, aber war sie auch glücklich? Bis jetzt hatte sie sich diese Frage nicht gestellt.
Vorsichtig suchte sie seine Augen und konnte nicht mehr wegschauen. Wie Magneten das Eisen hielten sie Helene in ihrem Kraftfeld. Dicke Tropfen lösten sich aus Johannes’ Haar und liefen ihm über das unbewegte Gesicht, doch er wischte sie nicht weg. Plötzlich kniete er sich vor sie hin und nahm ihre Hand. Sein
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