Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Ahnung. Konnte er sich nicht denken, dass sie vor Ungewissheit, Spannung und Sorge schon ganz krank war? Sie stand auf und griff zur Hacke, die gegen das Gartenhäuschen gelehnt war. Sie musste sich beschäftigen, pausenlos. Parri tat, was er konnte. Er war ein Mann, der sein Versprechen hielt. Daran zweifelte sie nicht, und aus diesem Grund verbat sie sich auch die aufkeimenden Gefühle von Wut, die sich gegen ihn richteten. Sie schlug die Eisenzinken fest in die fettglänzende Erde und bückte sich, um ihr das Unkraut zu entreißen, als wäre es ihr persönlicher Feind. Helene versuchte, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, aber ihre Ungeduld ließ sie nach einer Weile die Hacke auf den Boden werfen. Im gleichen Moment schlug Digger an. Helene wischte sich mit der Schürze den Schweiß von der Stirn und lief zum Tor. Es war derselbe Bote, der ihr erst kürzlich Parris Telegramm überstellt hatte.
»Bei Ihnen scheint ja Wichtiges im Schwange zu sein«, meinte der Mann und stieg seelenruhig von seinem Gaul ab. »Zwei Telegramme in einer Woche«, nickte er anerkennend und schürzte die Lippen. Helene lächelte dünn. Ihr war nicht nach Konversation zumute, und sie glaubte, noch im nächsten Moment ohnmächtig zu werden, wenn der Bote sich nicht endlich anschickte, ihr das Telegramm auszuhändigen. Der schien zu begreifen, dass Helene nicht in Plauderlaune war, und fasste mit einem leisen Seufzer tief in die Satteltasche. Endlich übergab er ihr einen Umschlag, der genauso aussah wie der letzte, den sie von Parri erhalten hatte. Ihre Finger wollten ihr kaum gehorchen, als sie den Umschlag öffnete, und sie sah nicht, wie der Bote sich aufs Pferd schwang und zum Abschied an die Hutkrempe tippte. Alles, was sie wahrnahm, waren ein paar maschinengeschriebene Worte, und sie rissen ihr das Herz aus dem Leib.
Habe mich getäuscht. So sorry. Werde sie finden! Parri
Neu Klemzig, Mai 1904
D ie Kunde von Georgs baldigem Weggang verbreitete sich noch vor der offiziellen Verkündigung. Mit der Hilfe seines Bruders hatte er sich eine glaubwürdige Geschichte zurechtgelegt, die im Kern besagte, dass ein junger Mann etwas von der Welt sehen sollte, bevor er sich auf ewig bindet. Besonders die Männer nickten zustimmend und klopften ihm freundschaftlich auf die Schulter, als sie sich nach der Sonntagsmesse ein Bier in der Kneipe genehmigten. Helene hingegen bemerkte in der Kirche so manchen mitleidigen Seitenblick aus der Nachbarbank, den sie geflissentlich ignorierte. Sie ahnte, was man tuschelte. Die arme Helene! Ihr Zukünftiger machte sich für ein paar Monate oder gar länger aus dem Staub. Hatte er es denn mit der Hochzeit überhaupt nicht eilig? Ein so hübsches Mädchen lässt man doch besser nicht zu lange allein.
Für Georg tat es ihr unendlich leid, das hatte er nicht verdient. Johannes hatte sie vor ein paar Tagen eingeweiht und ihr von dem Streit erzählt, damit sie auf das zu erwartende Gerede vorbereitet war. Wollte er ihr damit indirekt nahelegen, sich doch noch für Georg zu entscheiden? Oder hoffte er vielleicht im Gegenteil, dass ihr Herz weiter ihm gehörte? Sie wusste es nicht, doch sie betete inständig, dass es für Georg die richtige Entscheidung war, nach Hobart zu gehen. Und sie hoffte, dass er eines Tages zurückkehren und sich mit seinem Bruder aussöhnen würde. Dass die Brüder sich ihretwegen entzweit hatten, ließ sie oft nachts wach liegen. Vielleicht hatte Luise recht, und sie sollte Neu Klemzig verlassen? Doch wohin sollte sie gehen?
Neu Klemzig, 1905
H elene wusste, dass sie schwanger war, als ihr am Morgen speiübel wurde. Sie erinnerte sich an Annas letzte Schwangerschaft. Wie oft hatte sie der Freundin die Haare zurückgehalten, wenn Anna sich wieder mal über den Kübel beugen musste. Und nun sie selbst.
Seit einigen Monaten hatte Helene schon nicht mehr geblutet. In der ersten Verzweiflung hatte sie noch Ausflüchte finden wollen, redete sich ein, dass sie etwas Schlechtes gegessen hätte. Doch die Zeichen waren eindeutig, und Helene wusste, was sie erwartete, denn Anna hatte sie an jeder Phase ihrer Schwangerschaft teilhaben lassen. Ihr Bauch fühlte sich geschwollen an. Noch konnte sie ihn zwar unter dem weiten Rock verbergen, doch lange würde es nicht mehr dauern, bis es auch die anderen merkten. Schon morgen in aller Frühe musste sie heimlich das Dorf verlassen.
Auch wenn es anders aussehen mochte: Ihr Aufbruch war keineswegs überstürzt. In den letzten zwei Wochen hatte sie
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