Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Liebe. Ich bin vollkommen zufrieden und vermisse nichts. Meine Heimat ist Deutschland, hier bin ich aufgewachsen, hier ist mein Zuhause. Bitte verstehen Sie: Australien ist nur ein Wort für mich, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich Sie deshalb eindringlich darum bitte, mir nicht wieder zu schreiben.
Freundliche Grüße
Ihre Maria
PS: Haben Sie Dank für den hübschen Anhänger. Ich werde ihn hier sicherlich nicht oft tragen, werde ihn aber sorgsam verwahren.
Natascha hielt die geöffneten Briefe in der Hand. Wie zuvor der Pastor schaute sie nun zwischen den Bäumen aufs Meer hinaus, von wo sich eine Regenwand im Eiltempo der Küste näherte. Es dauerte nicht lange, da hatte sich der Wolkendunst mit dem Meer zu einem einzigen Grau vermählt. Dunstschwaden stiegen vom Wasser auf.
Natascha wusste nicht, was sie fühlen sollte. Diese Briefe legten nahe, dass Helen beinahe verzweifelt versucht hatte, den Kontakt zu Maria und ihren Adoptiveltern aufrechtzuerhalten, doch offenbar wünschten dies weder die Missionare noch Maria selbst.
Natascha konnte nicht umhin, Mitgefühl für Helen zu empfinden. Sie musste eine außergewöhnlich starke Frau gewesen sein, die sich nicht so schnell geschlagen gab, wenn sie trotz der zunehmend kürzer werdenden Antworten der Missionare und deren nur mühsam verhaltener Ungeduld, die sich zwischen den Zeilen so deutlich offenbarte, immer weiter ihre Briefe schrieb. Doch am Ende war ihr wohl keine Wahl geblieben. Besonders diese letzte Antwort, der Brief von Maria, musste Helen unsäglich geschmerzt haben. Danach folgten auch keine weiteren Briefe mehr an Helen, weshalb Natascha im ersten Moment annahm, dass umgekehrt auch Helen nicht mehr nach Deutschland geschrieben hatte. Aber das stimmte ja nicht. Natascha legte wie schützend ihre Hand auf den Rucksack, in dem sich der Brief von Helen von 1958 befand, den sie in der Schublade ihrer Mutter gefunden hatte. Maria hatte den Brief aufgehoben, also musste er der Großmutter irgendetwas bedeutet haben.
Natascha fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn und drehte sich zum Altersheim um. Sie sollte mit dem Pastor sprechen. Wenn er derjenige war, dem Helen diese Briefe anvertraut hatte, dann wusste er vielleicht mehr, als er ihr gegenüber angedeutet hatte. Sie faltete die Briefe rasch und schob sie zu einem kleinen Stapel zusammen, den sie vorsichtig in ein Fach ihres Rucksacks steckte. Dann stand sie auf und machte sich auf die Suche nach Jamie Edwards.
Rhonda schüttelte ein Kissen auf und legte es dem Pastor in den Nacken. Er saß mehr im Bett, als dass er lag, und nickte höflich, als Natascha ihn um ein Gespräch bat.
»Natürlich«, sagte er und wies mit der Hand auf den Stuhl neben dem Kopfende. Höflich komplimentierte er Rhonda hinaus, doch Natascha sah ihrer Miene an, dass sie darüber nicht glücklich war. Sie rief Rhonda ein Dankeschön hinterher, für den Fall, dass sie sich nicht mehr sehen sollten. Rhonda hob nur kurz die Hand, drehte sich aber nicht mehr um.
»Sie dürfen es ihr nicht übelnehmen. Rhonda fühlt sich der Kirche und mir seit langen Jahren verbunden und hütet uns ein klein wenig zu eifersüchtig, wenn ich das so sagen darf. Sie mag es nicht, wenn ich Geheimnisse vor ihr habe.« Jamie Edwards lachte kurz auf. Dann sah er Natascha unverwandt an. »Also, was halten Sie von den Briefen?«
»Ich finde sie traurig. Sie lesen sich so, als hätte Helen alles versucht, in Kontakt zu bleiben, doch letztlich wurde ihr Angebot, als Vermittlerin zwischen den Kulturen zu wirken, kalt zurückgewiesen. Die Missionare wünschten offensichtlich einen klaren Schnitt, und auch Maria, um die es dabei ja ging, schien einen solchen Schritt durchaus zu befürworten. Das alles muss Helen zutiefst verletzt haben.« Sie atmete hörbar aus, und in den Sekunden des Schweigens sammelte sie Mut für ihre Fragen. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und schlug die Beine übereinander.
»Wussten Sie, dass Helen Tanner eigentlich Helene Junker hieß und aus Neu Klemzig in Südaustralien kam?« Sie fahndete in seinem Gesicht nach verräterischen Zügen, doch er hob nur kurz eine Braue.
»Ja, das wusste ich, und es wundert mich nicht, dass Sie es so schnell herausgefunden haben. Sie machten mir gleich einen aufgeweckten Eindruck.« Er kicherte heiser und verfiel dann in einen unangenehmen Husten. Natascha stand auf und beugte sich über ihn.
»Soll ich die Schwester holen? Brauchen Sie
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