Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
wie geistesabwesend den Kopf. Natascha war sich nicht sicher, wie es um seine geistige Gesundheit stand, doch dann sah er sie aus hellen Augen an.
»Zehn Jahre sind eine lange Zeit, selbst für einen alten Mann wie mich.« Natascha atmete auf. Seine klare Stimme wollte nicht recht zu dem fragilen Körper passen, der sich jetzt unter Anstrengungen nach vorne gebeugt hatte, um ihr die Hand zu reichen.
»Ihr Besuch freut mich, mein Kind.« Er legte die andere Hand darauf und hielt sie so für eine Weile fest, aber es machte ihr nichts aus. Bis auf die Altersflecke war seine Haut fast durchscheinend wie Pergament, und so fühlte sie sich auch an. Die blauen Adern traten jedes Mal deutlich hervor, wenn er den leichten Druck auf Nataschas Hand erneuerte. Endlich ließ er sie los und winkte Rhonda heran.
»Rhonda, sind Sie so lieb und holen mir etwas aus meinem Zimmer?«, bat er mit sanfter Stimme. »Im Schreibtisch hinten rechts finden Sie ein Bündel alter Briefe. Das hätte ich gerne.« Rhondas Mundwinkel verzogen sich zu einem gehorsamen Lächeln, und sie ging mit schnellen Schritten zum Haus. Natascha hatte nicht vor, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, doch es wollte ihr einfach nicht länger gelingen, ihre Neugier zu zügeln.
»Diese alten Briefe … haben die etwas mit Maria zu tun?« Statt zu antworten, nickte der alte Pastor nur und blickte aufs Meer hinaus, das bleiern und unbewegt zwischen den leuchtend roten Blüten der Johannisbrotbäume zu erkennen war.
»Maria war Ihre Großmutter, sagten Sie?« Er sah sie von der Seite aus an.
»Ja. Bedauerlicherweise weiß ich so gut wie nichts über ihre Herkunft. Deshalb bin ich überhaupt nach Australien geflogen. Um mehr zu erfahren«, fügte sie hinzu, als wäre das nötig gewesen. Er legte seine Hand wieder auf die ihre und tätschelte sie wie die eines kleinen Kindes. Den Blick hatte er wieder gedankenverloren in die Ferne gerichtet. Natascha zwang sich, ihn nicht mit Fragen zu bombardieren, und wartete stattdessen ungeduldig auf Rhondas Rückkehr.
»Ist es das hier?« Rhonda wedelte mit einem Stapel Umschlägen vor der Nase des Pastors herum.
»Geben Sie doch Acht, Rhonda! Das sind alte Dokumente.« Er klang verärgert, und Rhonda streckte ihm mit gekränktem Blick die Briefe hin. Er nahm das Bündel und strich sanft darüber. Dann reichte er es Natascha.
»Hier, nehmen Sie. Die gehören nun Ihnen.« Natascha sah ihn überrascht an.
»Aber Sie kennen mich doch gar nicht«, entfuhr es ihr.
Jamie Edwards lachte leise. Dabei schloss er die Augen. Die geäderten Lider erinnerten Natascha an Walnusshälften.
»Sie meinen, ich sollte darauf bestehen, dass Sie sich ausweisen?« Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Grundgütiger! Wer außer Ihrer Familie sollte schon ein Interesse an der kleinen Maria haben? Entschuldigen Sie, wenn ich es so schonungslos formuliere, aber ihr Schicksal war nur eines von vielen.« Er schenkte ihr einen aufmunternden Blick. »Nur zu, mein Kind. Lesen Sie in Ruhe die Briefe, und danach können wir uns bis zum Beginn meiner Bibelstunde noch ein Weilchen unterhalten, sofern Sie das wünschen. Bitte entschuldigen Sie mich so lange. Sie finden mich auf meinem Zimmer.« Auf seinen Blick hin erhob sich Rhonda aus ihrer Schmollecke und schob ihn ins Gebäude zurück.
Natascha platzte fast vor Ungeduld. Woher hatte Edwards die Briefe? Von Helen? Vielleicht Briefe, die sie nie abgeschickt hatte? Briefe an Maria? Das Herz pochte ihr bis zum Hals, als sie über die Umschläge strich. Wenn sie doch nur mehr als diese paar Stunden hätte, bevor sie wieder zurückmusste! Was, wenn sie hier den entscheidenden Hinweis auf ihre Großmutter in den Händen hielt und keine Zeit mehr hätte, dem nachzugehen? Verdammt, wieso war sie nicht schon eher nach Palm Island gefahren?
Die Briefe waren nach Datum sortiert und ausnahmslos an Helen Tanner adressiert. Natascha überflog die Namen der Absender, bevor sie mit dem Lesen begann. Bis auf den letzten stammten sie alle von Irmtraud und Herbert, den deutschen Missionaren, die Maria auf Palm Island adoptiert hatten. Der jüngste Brief war anders. Sein Umschlag war größer und aus griffigerem Papier, und natürlich war die Handschrift eine andere. Diesen letzten Brief hatte Maria geschrieben. Natascha legte ihn wieder nach unten. Sie wollte die Briefe in der chronologischen Reihenfolge lesen. Mit unsicheren Händen öffnete sie einen Umschlag nach dem anderen.
Berlin, im November
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