Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
fiel auch ein, wie Gottfried ihr auf dem Schiff partout nicht von der Seite weichen wollte, wie er sie immer wieder wie zufällig berührt, den Arm um sie gelegt oder sie unvermittelt an sich gezogen hatte. Als sie einmal auf Deck vom hochspritzenden Meerwasser benetzt worden war, hatte er ihr Dekolleté in einer einzigen Bewegung mit der flachen Hand trocken gewischt. Sie hatte vor Überraschung die Luft angehalten, sich äußerst unwohl gefühlt, aber hatte sich eigentlich nichts weiter dabei gedacht. Warum auch? Gottfried war ihr Beschützer, die Eltern vertrauten ihm blind. Alles ging mit rechten Dingen zu, und für Helene gab es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Grund, daran zu zweifeln.
Doch nun, da sie einmal angefangen hatte, Gottfrieds Motive zu hinterfragen, kamen ihr gleich mehrere gemeinsame Kutschenfahrten in den Sinn, bei denen er viel näher gerückt war als notwendig oder gar schicklich. Sie hatte seinen schlechten Atem riechen können, den sauren Schweiß. Doch was hätte sie tun können? Was sollte sie jetzt tun?
Wieder klopfte es an ihrer Tür. Sie klappte das Buch zu.
»Kommst du? Die ersten Gäste wollen sich verabschieden«, hörte sie Anna sagen.
Schon? Hoffentlich nicht ausgerechnet Gottfried. Sie musste doch erst das Buch wieder in seine Rocktasche stecken.
»Ich komme. Eine Sekunde.«
Helene warf einen Blick in den Spiegel über der Kommode und richtete sich mit zwei Handgriffen das Haar, dann strich sie die Schürze glatt, in der sie das schwarze Buch verbarg, und entriegelte die Tür. Ihre Stube lag gleich rechts neben dem Hauseingang, und so konnte sie den Flur überblicken, wo sich ein paar Gäste vor der Garderobe lachend unterhielten.
»Da bist du ja endlich!« Anna kam ihr entgegen und legte den Arm um sie. »Du siehst blass aus. Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte sie besorgt, als sie noch außer Hörweite der anderen waren. Helene zwang sich zu einem Lächeln und nickte stumm. Der alte Gösser klopfte ihr kräftig auf die Schulter.
»Du kannst von Glück sagen, dass Anna so fürsorglich ist. Sonst hätte ich deine Portion Sahnepudding sicherlich auch noch verdrückt.« Er lachte zufrieden und hielt sich den Bauch.
Wie aus dem Nichts tauchte Gottfried auf und angelte seinen Rock vom Haken. Helene öffnete vor Schreck den Mund. Er wandte ihr den Kopf zu, und sie bemerkte, wie sein Blick langsam ihren Hals hinunterglitt. Sie presste die Lippen aufeinander und fasste sich unwillkürlich an den Kragen, um ihn rasch zuzuknöpfen.
»Meine Verehrung allerseits.« Gottfried verbeugte sich mehr in ihre Richtung als in die der anderen und setzte seinen Hut auf. »Ich danke für das wundervolle Mahl, liebste Anna, und die überaus angenehme Gesellschaft.« Dann tippte er knapp an die breite Krempe seines dunklen Hutes und ging.
Hilflos sah Helene ihm nach. Ihre Hand fühlte nach der Schürze. Durch den Stoff konnte sie das weiche Leder des Notizbuchs spüren. Es würde nicht lange dauern, bis Gottfried seinen Verlust bemerkte.
Einige Tage später stand Helene am Herd und kochte Quittengelee, als Gottfried plötzlich im Türrahmen stand. Seit dem Abend, als sie sein Buch entwendet hatte, hatte er sie bei jeder Begegnung misstrauisch beäugt. Seine Blicke waren drohend gewesen, seine Bewegungen fahrig. Helene hatte sehr darauf geachtet, nie mit ihm allein zu sein. Noch wusste sie nicht, wie sie den Inhalt des Buches gegen ihn einsetzen würde, aber das Wissen, eine Waffe gegen ihn in der Hand zu haben, erfüllte sie mit einem gewissen Triumphgefühl.
»Guten Tag, Helene.« Helene war erschrocken herumgefahren und wischte sich fahrig die Hände an der Schürze ab. Hatte sie sein Klopfen nur nicht gehört, oder war er tatsächlich ohne ein Zeichen eingetreten?
»Gottfried. Ich habe dich gar nicht kommen hören.«
Gottfried lächelte schief und legte seinen Hut auf dem Küchentisch ab, so als hätte er vor, für längere Zeit zu bleiben.
»So ganz allein? Ich nehme an, Anna und ihre Familie sind bei den Schwiegereltern, bei Maximilian und Elisabeth?« Er hatte einen weiteren Schritt auf sie zu getan. Ein unbestimmtes Gefühl von Bedrohung überfiel sie, die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.
»Ja, samstags sind sie immer zum Mittagessen drüben.« Mit dem Kinn wies sie vage in die Richtung von Maximilians Haus.
Gottfried nickte und starrte sie durchdringend an.
O Gott, wie dumm sie war! Er hatte diesen Zeitpunkt absichtlich gewählt, um mit ihr
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