Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
zwischen ihnen beiden, und irgendwann gab Helene es schließlich auf, der unterkühlten Frau gefallen zu wollen. Was für ein Glück, dass Anna aus einem ganz anderen Holz geschnitzt war. Warmherzig und offen, hatte sie ihr gleich die Freundschaft angetragen.
Eines Abends richtete Anna für Ferdinand, den Diakon, eine Feier in ihrem Haus aus. Er konnte auf ein vierzigjähriges Dienstjubiläum zurückblicken, und diese Leistung sollte mit einem kleinen Festmahl gefeiert werden. Für die Gäste und auch für Helene ein willkommener Anlass, dem täglichen Einerlei für ein paar Stunden zu entfliehen. Für Helene war es selbstverständlich, dass sie Anna, die sie so gastfreundlich unter ihrem Dach beherbergte, bei der Ausrichtung der Feier zur Hand ging.
Gerade hatte Helene Gottfrieds Rock an der Garderobe aufgehängt, als ihre Finger plötzlich in seiner Innentasche die Umrisse eines Büchleins erspürten. Sofort war ihre Neugier geweckt. Gottfried besaß ein kleines Buch mit abgestoßenen Ecken, das er hütete wie seinen Augapfel. Nie lag es unbeobachtet herum, dafür zog er es immer wieder hervor, trug etwas darin ein, um es gleich nach seinen Einträgen wieder in den Tiefen seiner Rocktasche verschwinden zu lassen. Schon lange hatte Helene wissen wollen, was Gottfried so geheimniskrämerisch notierte.
Im Grunde durfte sie das Notizbuch nicht interessieren, das war ihr klar. Es gehörte sich nicht, anderen hinterherzuspionieren, und was sie gerade tat, nagte kurz an ihrem Gewissen. Doch dann erinnerte sie sich wieder, wie er sie einmal, nachdem er unangemeldet ihren Unterricht besucht hatte, zur Rede stellte, weil ihm erneut ihre Art missfiel.
»Du bist viel zu nett zu den Wilden«, hatte er sie im Schulbüro zurechtgewiesen. »Auf diese Weise lernen die Schwarzen nie, wer ihr Herr ist, und sie werden uns weiterhin auf der Nase herumtanzen.« Helene hatte zunächst vorsichtig widersprochen, doch dann waren die Argumente hin- und hergeflogen, bis er die Hand hochhielt, um ihr Einhalt zu gebieten. Er zog das Büchlein hervor und kritzelte hastig etwas hinein, seine Nase berührte dabei fast das Papier. Dass sie neben ihm stand, schien ihn nicht zu kümmern. Sie konnte zwar nichts von seinem Eintrag lesen, dazu war sie zu weit entfernt, doch er hatte etwas über sie ins Buch geschrieben, da war sie ganz sicher. Und jetzt diese einmalige Gelegenheit, dachte Helene, als sie im Flur stand und Gottfrieds Rock in Händen hielt.
Ob es sich wohl um eine Art Tagebuch handelte? Sie konnte sich eigentlich nichts anderes vorstellen. Wieder wurde ihr bewusst, dass es sich nicht gehörte, heimlich in fremden Tagebüchern zu lesen. Im Normalfall ein übler Vertrauensbruch, wie man kaum einen schlimmeren begehen konnte, und dennoch: Im Falle Gottfrieds rührte sich Helenes Gewissen kaum. Ihre einzige Sorge war, dass er sie auf frischer Tat ertappen könnte.
Darauf bedacht, dass keiner sie beobachtete, befühlte Helene jetzt den Inhalt der Tasche und zerrte dann blitzschnell das schwarze Büchlein hervor, um es in ihrer Schürze verschwinden zu lassen. Dann wartete sie ungeduldig auf einen günstigen Moment. Als sie mit einer Schüssel dampfender Kartoffeln aus der Küche kam, waren Helenes Gedanken ganz bei Gottfrieds Buch, und sie hatte den Eindruck, dass die Gäste ihr ansahen, was sie getan hatte. Sahen sie das Buch in ihrer Schürze, sah Gottfried es? Je eher sie hier fertig war, desto besser. Schnell ging sie nun in die Küche, um den Kohl zu holen. Als sie die Schüssel auf den Tisch stellte, senkte sie den Blick. Bestimmt war es auf ihrer Stirn zu lesen, dass sie Gottfrieds private Notizen gestohlen hatte. Sie wischte sich an der Schürze das Kondenswasser von den Händen, spürte dabei das Büchlein und erschrak über die eigene Unverfrorenheit. Gottfried zu bestehlen, das war ungeheuerlich. Doch das Buch brannte förmlich in ihrer Schürze, und sie konnte es kaum mehr erwarten, darin zu lesen. Nachdem sie Anna geholfen hatte, die Hauptspeise aufzutragen, entschuldigte sie sich für einen Moment, zog sich auf ihr Zimmer zurück und schob den Riegel vor.
Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Notizbuch. Die Schrift war schwer leserlich. Buchstaben drängten sich eng und steil aneinander, gefährlich nach rechts gelehnt, als hätten sie es eilig. Trotz der Hast, mit der sie geschrieben waren, glichen dieselben Buchstaben einander jedoch wie ein Ei dem anderen. Es war eine ehrgeizige, eine getriebene
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