Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
allein zu sein!
Wie um ihre Ängste zu bestätigen, schloss er jetzt die Küchentür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Helene schluckte. Was hatte er vor? Ihre Gedanken rasten und überschlugen sich. Das Buch, wo war das Buch? Hatte sie es sicher genug versteckt? Ja, dachte sie. Im Kinderzimmer würde er hoffentlich nicht so schnell danach suchen.
Und wenn es zum Äußersten käme? Würde man ihre Schreie hören? Sie war sich da nicht so sicher. Es war Winter, alle Fenster waren geschlossen, und das Feuer brannte zu dieser Jahreszeit auch in den Öfen der Nachbarschaft geräuschvoll. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie musste Stärke zeigen. Immerhin, beruhigte sie sich, hatte sie das Buch, und dieser Gedanke gab ihr Kraft.
Nachdem Helene Gottfrieds Buch zu Ende gelesen hatte, wusste sie, dass sie es nicht mehr hergeben würde. Wie hätte sie es auch anstellen sollen, es heimlich zurückzustecken? Nein, sie hatte beschlossen, Gottfrieds Notizen gegen ihn zu verwenden. Das Buch war immerhin der einzige Beweis, dass Gottfried sich an Amarina vergangen hatte. Der Gedanke an die junge Aborigine drehte Helene das Herz im Leibe um. Sie war fortgegangen, weil Gottfried sich an ihr vergangen hatte, und Helene hatte ihr nicht helfen können. Irgendwann, so hoffte sie, würde er dafür büßen müssen. Solange sie im Besitz seiner Schmierereien war, gab es eine Hoffnung auf Gerechtigkeit für Amarina – aber auch für die anderen Gemeindemitglieder, die Gottfried in den Dreck gezogen hatte. Es waren ja nicht nur die Worte in seinem Buch, die gemein und bösartig auf den Ruf unbescholtener Leute abzielten, Gottfrieds Verhalten war mitunter unerträglich geworden. Keine Gemeindeversammlung verstrich, in der er nicht jemanden mit wüsten Vorwürfen oder Behauptungen überzog. Meist ging es dabei um Geld, weshalb Gottfried es besonders auf die erfolgreicheren Neu Klemziger abgesehen hatte wie zum Beispiel auf den armen Jakob Herder, dessen Farm dank harter Arbeit prächtig gedieh. Raffgier hatte er dem Bauern vor versammelter Mannschaft unterstellt, und dann hatte er sich an Herders Frau gewandt und sie gewarnt: »Und du solltest besser auf deinen Mann aufpassen! Wenn er in die Stadt fährt, interessiert ihn dort nicht nur der Markt, er schaut auch jedem Weiberrock hinterher.« Hildegard Herder war außer sich gewesen und weinend davongerannt. Jakob wollte Gottfried an die Gurgel springen, und nur die vereinte Kraft der Rohloff-Brüder konnte ihn zurückhalten. Und dies war nur das jüngste Beispiel für Gottfrieds unberechenbare Ausbrüche.
Aber nun besaß sie eine Art Versicherung, die sie und die anderen vor seinen Übergriffen schützen würde. Sollte er ihr oder anderen in der Gemeinde jemals ernsthaft gefährlich werden, dann würde ihn sein Buch in ihren Händen zum Schweigen bringen. Sie stellte sich seine verzerrte Grimasse vor, wenn sie ihm damit drohen würde, vor versammelter Gemeinde daraus vorzulesen oder das Buch nach Salkau zu schicken, denn auch über die Salkauer fanden sich darin schlimme Bemerkungen. Das würde ihnen wenig gefallen, denn schließlich hatten die Salkauer seine Reise nach Australien finanziert und unterstützten zum Teil noch immer Zionshill. Dieses Risiko konnte er nicht eingehen.
Helene straffte ihre Haltung. Wie gut, dass sie dieses Buch hatte, dachte sie wieder und hielt sich an dem Gedanken fest, als sie Gottfried entgegentrat.
»Was willst du hier?«
Gottfried setzte sich auf die Tischkante und griff wie selbstverständlich nach ihren Händen. Instinktiv zog sie sie zurück, doch er nahm ihre Hände erneut und zog sie langsam zu sich heran. Helene verkrampfte sich, seine Unverfrorenheit hatte sie überrumpelt, und sie begann zu zittern. Sein Griff wurde fester, er tat ihr weh. Schon früher einmal hatte Gottfried sie so an sich gezogen – in der Schreibstube, als er sich mit ihr allein glaubte. Doch dann war der Diakon aus der Sakristei hereingekommen, und er hatte sie schnell losgelassen. Damals wie heute spürte sie, dass er schwitzte. Seine Handflächen waren feuchtwarm, wie sein Atem, den sie nun am ihrem Hals spürte. Voller Ekel wollte sie sich von ihm abwenden. Sie bekam kaum noch Luft, Entsetzen breitete sich in ihr aus. Nun, da sie dank seiner Aufzeichnungen wusste, wozu er fähig war, konnte sie sein Verhalten nicht länger missdeuten, wie sie es damals in der Schreibstube getan hatte. Bestimmt wollte er ihr nur etwas Vertrauliches von der Missionsstation
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