Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
ließ sie aber ziehen. Das hatte er in all den Jahren, in denen er als Kutscher arbeitete, noch nicht erlebt. Eine weiße Frau, die sich mit den Wilden in die Büsche schlug. Fluchend schleppte er die schwere Kiste an die von Helene bestimmte Stelle und bedeckte sie mit Efeu. Dann nahm er die Mütze ab und kratzte sich wieder den feuchten Nacken. Hoffentlich würde dieses seltsame Verschwinden seiner Passagiere nicht noch zu einem Problem für ihn. Doch für Zweifel war es nun zu spät. Er hätte nämlich schon jetzt nicht mehr sagen können, wo genau die drei Frauen die Dschungelwand durchbrochen hatten. Es war, als hätte die grüne Hölle sie einfach verschluckt.
Helene wusste nicht, ob es das Fieber war oder die unerträgliche Schwüle, was sich wie eine Dunstglocke über sie gelegt zu haben schien und ihr das Atmen fast unmöglich machte. Immer wieder wachte sie für kurze Zeit auf, und dann sah sie merkwürdige Gestalten, die sich über sie beugten und in einer fremden Sprache auf sie einredeten. Ein Gesicht kam ihr bekannt vor. Amarina. Gott sei Dank!
Ein Feuer brannte neben ihr, und grüne Zweige, die jemand aufs brennende Holz gelegt hatte, entwickelten einen starken, weißen Rauch, der sie husten ließ und aus ihrem Dämmerzustand weckte. Noch bevor sie Amarina fragen konnte, wo sie war, spürte sie wieder diesen Schmerz, an den sie sich wie an einen fernen, schrecklichen Traum erinnerte. Richtig. Sie war schwanger, und offensichtlich hatte sie Wehen. Sie war noch zu benommen, als dass die aufkommende Panik vollständig Besitz von ihr ergreifen konnte. Sie schluckte schwer und versuchte, sich zur Vernunft zu rufen. Dazu setzte sie sich auf und griff sich an die Stirn. War sie ernsthaft krank? Wo war sie überhaupt? Amarina nahm ihre Hand und streichelte sie besänftigend.
»Ich bei dir. Du aufgewacht. Jetzt alles gut. Kind kommen bald.« Neben Amarina sah sie vier weitere Frauen, die um sie herumsaßen. Zwei kümmerten sich ums Feuer, und zwei sangen ein fremdes Lied, das ihr tröstlich erschien.
»Rauch heißen dich und Kind willkommen, Gesang rufen gute Geister.«
Eine Welle des Schmerzes übermannte Helene und brach sich in ihrem Schoß. Ihre Finger krallten sich in Amarinas Hand. Amarina lächelte und nickte ihr zu. Helene hatte keine Wahl. Sie musste diesen Frauen vertrauen.
Auf ein Zeichen Amarinas zogen die Frauen Helene vorsichtig über ein Erdloch, das sie gegraben hatten, und sorgten dafür, dass sie darüberhockte. Helene würde sich später daran erinnern, wie erschrocken sie über die Erkenntnis war, dass ihr Kind bei der Geburt in ein Erdloch fallen würde. Die nächste Wehe ließ sie aufschreien. An das, was danach geschah, erinnerte sie sich nur schleierhaft. Da war die beruhigende Hand Amarinas, der gleichmäßige Singsang der fremden Frauen, der wohlriechende Rauch und plötzlich das Kind in ihren Armen.
Ihre Tochter.
Nellie Amarina.
Es dauerte einige Zeit, ehe sich Helene wieder einigermaßen bei Kräften fühlte. Wenn sie Amarina recht verstanden hatte, war sie auf halbem Weg zu den Orta in Ohnmacht gefallen. Sie konnte von Glück sagen, dass der Stamm Amarinas Rufe schließlich gehört hatte. Die Frauen der Orta, deren Sache es war, sich um Niederkünfte zu kümmern, hatten Amarina nicht viel Hoffnung machen können. Die weiße Frau war schwach. Trotzdem entzündeten sie Amarina zuliebe das Feuer und begannen mit ihrem monotonen Gesang. Amarina war an ihrer Seite gewesen, als Helene am Ende doch noch aufwachte und ihr kleines Mädchen gesund zur Welt brachte. Nellie war zu früh zur Welt gekommen, und deshalb war es völlig ausgeschlossen, dass sich Helene mit ihr in nächster Zeit auf den Weg zur Schwester machte. So erschöpft wie sie und ihr Kind waren, nahm Helene das Angebot der Orta dankbar an, bei ihnen zu bleiben, bis sie wieder einigermaßen zu ihrer alten Kraft gefunden hatte. Jedes Mal, wenn sie in das winzige Gesicht ihrer Tochter sah, waren all ihre Sorgen, die die Zukunft betrafen, wie weggeblasen. Sie strich Nellie über das weiche, dunkle Haar und küsste ihre Stirn. Die Kleine war so zart, so zerbrechlich und doch perfekt. Ein Wunder.
Helene weinte viel in den ersten Tagen, meistens vor Freude, aber auch vor Erschöpfung. Amarina und die anderen Frauen kümmerten sich derweil rührend um sie, und ganz allmählich begann das Gefühl der Fremdheit von ihr zu weichen. Bald kannte sie die Frauen bei ihrem Namen und empfand Dankbarkeit für ihre Hilfe und
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