Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Süden konnte das Auge so weit blicken, wie der milchige Dunst der Luftfeuchtigkeit es gerade zuließ. Obwohl es Helene noch immer unerträglich heiß erschien, war die Regenzeit doch schon fast vorbei und die Sicht auf das Panorama um Meena Creek daher gut. Man konnte heute sogar den Gipfel des höchsten Berges, des Misty Mountain, erkennen, der die meiste Zeit des Jahres im heißen Nebel verborgen blieb. Helene beschirmte die Augen mit beiden Händen und ließ den Blick wandern. Sie konnte in der Ferne zwei größere, helle Gebäude ausmachen, die ungefähr eine Dreiviertelstunde Fußmarsch auseinanderliegen mochten. Soweit sie es aus der Entfernung erkennen konnte, waren beide jeweils von mehreren Scheunen und Wellblechbaracken umgeben. Das Haus auf dem Hügel war von hohen Palmen gesäumt, deren Wedel sich unter einer Windbrise zur Seite neigten. Das andere, flachere Haus lag am Fluss, das war wohl jener Meena Creek, der diesem Flecken Erde seinen Namen geliehen hatte. Welches der Häuser zu ihrer Schwester gehörte, konnte sie nur raten.
Helenes Herz pochte wild. In einer dieser Farmen lebte also Katharina, und wenn alles gutging, würde sie ihr schon in sehr kurzer Zeit gegenüberstehen. Amarina, die mit den Trägern gesprochen hatte, kam nun mit Cardinia auf Helene zu.
»Männer sagen, ist diese Farm.« Sie zeigte auf das Haus auf dem Hügel. »In andere Haus leben keine Frau, Männer sagen. Du wollen gehen auf Hügel?«
Helenes Mund war trocken, sie hatte Angst. Trotzdem nickte sie, es gab jetzt kein Zurück mehr. Amarina setzte an, den Männern zuzurufen, sie sollten sich in Bewegung setzen, doch Helene unterbrach sie. Sie wollte vorneweg gehen. Falls Katharina den merkwürdigen Zug vom Fenster aus beobachtete, könnte sie sich erschrecken und in ihrer Angst vielleicht zum Gewehr greifen. Amarina musste sie diese Gefahr nicht erst erklären, sie nickte sofort. Ihr Mann Mandu war in einer ähnlichen Situation ums Leben gekommen. Vielleicht war es sowieso am besten, wenn die Schwarzen sich so lange im Dschungel verbargen, bis Helene sicher war, dass sie von den Weißen nichts zu befürchten hatten. Sie traute ihrer Schwester zwar nicht zu, auf einen Menschen zu schießen, doch wer wusste schon, wie sehr sich Katharina in all den Jahren unter den neuen Lebensbedingungen verändert hatte? Das Leben auf Meena Creek war sicherlich nicht mit dem in Salkau zu vergleichen.
Amarina selbst ließ sich partout nicht abwimmeln, und im Grunde war Helene ganz froh darüber. Ihr rauschte vor Aufregung noch immer das Blut in den Ohren, und die Anwesenheit Amarinas würde ihr vielleicht Kraft geben und sie ein wenig beruhigen. Die Träger schleppten die Truhe auf den Dschungelpfad zurück und setzten sich mit gekreuzten Beinen davor. Helene wusste, dass die Orta stundenlang so ausharren konnten, und machte sich mit Amarina, Cardinia und Nellie auf den bisher schwersten Abschnitt ihrer Reise.
Der Wind wiegte das in Blüte stehende Zuckerrohr sachte hin und her. Drei, vier Meter stand es hoch, auf manchen Feldern, an denen sie vorüberwanderten, sogar noch höher, und dort sahen sie aus einiger Entfernung auch schon Zuckerrohrschnitter am Werk. Helene konnte die dumpfen, harten Schläge der Macheten hören und eine scharfe Stimme, die knappe Anweisungen gab. Die Männer waren zu weit weg, um die Gesichter erkennen zu können. Vielleicht war Matthias darunter, ihr Schwager, und Helene überlegte kurz, was sie tun sollte. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf. Es wäre ein Umweg gewesen, zu den Schnittern zu gehen, und außerdem wollte Helene nicht riskieren, so kurz vorm Ziel vom Schwager abgewiesen zu werden, noch bevor sie Katharina überhaupt zu Gesicht bekommen hätte, und somit ohne die Chance, sich je der Schwester zu erklären.
Die zwei Frauen gingen mit ihren Kindern den Hügel hinauf.
»Katharina?«
Die Frau, die mit dem Rücken zu ihnen stand und im Begriff war, ein Laken auf die Wäscheleine zu hängen, fuhr zusammen und drehte sich in einer ruckartigen Bewegung zu ihnen um. Das nasse Wäschestück hatte sie erschrocken an die Brust gedrückt. Ihr Blick wanderte unruhig von Helene zu Amarina, die sich, genau wie Cardinia, von Helene nach einigem Zureden doch noch dazu hatte bewegen lassen, ihr Kleid zu tragen. Darüber war Helene jetzt heilfroh. Auch ohne zwei nackte Wilde an ihrer Seite musste diese Situation für Katharina schon irritierend genug sein. Die großen Augen der Schwester glitten von Amarina
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