Der geheimnisvolle Gentleman
aufgebrochen war. Es überraschte Olivia, dass der Kerl in der Lage gewesen war, die Tür zu finden. Sie selbst hätte keinen einzigen Gedanken an einen nutzlosen Idioten wie ihn verschwendet, aber offenbar besaß Wallingford etwas, das Abbie wollte.
Einen Titel. Irgendeinen Titel.
Abbie Hackerman, Tochter jenes Kaufmanns, der ganz allein die militärischen Eskapaden des inzwischen verrückt gewordenen Königs George finanziert haben sollte, hatte eine Menge zu bieten. Sie könnte es sich erlauben, wählerischer zu sein.
Olivia streifte das Mädchen mit einem Blick. Abbie antwortete ihr mit einem strahlenden Lächeln. Sie war die personifizierte Liebenswürdigkeit. Denn sozialer Aufstieg über mehrere Generationen hinweg eröffnete die Möglichkeit, ein eher professionelles Verständnis dafür zu entwickeln, wen man lächerlich machen und wen man manipulieren konnte.
Olivia war sich darüber im Klaren, dass ihre Heirat mit Dane sie in Lichtgeschwindigkeit von der ersten in die zweite Kategorie befördert hatte. Miss Hackerman hatte ihren vorher für Olivia vorgesehenen Hohn abgelegt und fixierte sie jetzt mit dem erwartungsvollen Blick einer über alles geliebten besten Freundin.
Olivia konnte es kaum erwarten, mit Dane aufzubrechen, nur Zentimeter von ihm getrennt in der Kutsche nach Hause zu fahren – o verdammt – und mit Lord Dryden.
Endlich bedankte sich Dane bei ihren Eltern und ließ die Kutsche rufen. Olivia trat ins Freie, um dort auf ihn zu warten. Nach dem schier endlosen Abend in den stickigen Räumen sog sie tief die Kühle und Stille der Nacht ein. Dane und Marcus waren noch in der Eingangshalle und verabschiedeten sich von diesem ernsthaften, gut aussehenden Lord
Wyndham, weshalb Olivia höflich ein paar Schritte den Weg hinunterging.
Wie konnte Dane es aushalten, dort zu stehen und sich zu unterhalten, wenn sie zu Hause derart unerhört wunderbare Dinge erwarteten?
Zu Hause. Wie schnell sie doch ihre Loyalität gewechselt hatte. Aber seit Walt nicht mehr unter ihnen war, band sie nichts mehr an ihre Familie außer ihrem Pflichtgefühl.
Sie hatte jetzt eine neue Familie. Dane war ihre Familie, und irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würden sie Kinder haben, und sie würde diese nie, wirklich niemals von sich weisen, wenn sie weinten oder auf andere Weise ihrer Hilfe bedurften.
Donnernder Hufschlag war auf der gepflasterten Straße zu vernehmen. Olivia wandte sich ab und wickelte sich eng in ihren Mantel, um ihr Kleid vor Spritzern zu schützen, wenn der Reiter an ihr vorbeipreschen würde. Da riskierte jemand recht viel, im Dunkeln so schnell zu reiten.
Wie viele Kinder Dane wohl haben wollte? Sie selbst hätte nichts dagegen, so viele wie möglich in der kurzen Zeit zu bekommen, die ihr noch blieb. Schließlich war sie schon fast dreißig …
»Olivia!«
Irgendetwas traf sie mit voller Wucht, riss sie von den Beinen und wirbelte sie zur Seite.
Als das galoppierende Pferd ihn traf, ein Stoß von der Vorderseite des Pferdes gegen seine Schulter, fiel Dane schwer auf das Kopfsteinpflaster. Da er beide Arme schützend um Olivia geschlungen hatte, war er nicht in der Lage, seinen Sturz abzufangen. Mit einem dumpfen, abscheulich klingenden Geräusch schlug sein Kopf auf der Straße auf. Einen kurzen Augenblick lang war ihm schwarz vor Augen. Völlig umnebelt konnte er nur das eine denken: Ich muss sie beschützen. Er hielt sie umklammert und drückte sie dabei fest an seine Brust.
Er fühlte, wie jemand an ihm zerrte, an seinen Handgelenken zog und versuchte, sie aus seinem Griff zu befreien. Dane widersetzte sich mühsam, schüttelte die Hände mit einer unkoordinierten Handbewegung ab.
»Greenleigh, lass los, Mann. Du drückst ihr noch die Luft ab.«
Das klang nach Marcus. Dane blinzelte. Sein Blick wurde klar, und er erkannte Marcus, Wyndham und Reardon, die sich über ihn beugten.
»Dane … du kannst mich … jetzt … loslassen.« Olivia lag atemlos auf seinem Brustkorb, gefangen in seiner schraubstockartigen Umarmung.
Er erdrückte sie. »O Gott!« Dane riss die Arme auseinander, ließ sie los, sodass sie erschöpft auf das Pflaster neben ihm glitt. »Geht es dir …« Er versuchte, sich aufzurichten, um sie besser zu sehen, aber irgendjemand schwang einen Hammer in seinem Kopf. Er presste eine Hand an seinen Schädel und kämpfte gegen die grauen Nebelschleier an den Rändern seines Blickfeldes. »Olivia …«
Erst zu zweit schafften sie es, ihn auf die Beine zu
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