Der gehetzte Amerikaner
Kopf.
»Diese ganze Geschichte klingt wie ein schrecklicher Alptraum. Nur ein Punkt macht eine Ausnahme.«
»Haras?« fragte Brady.
Sie nickte sachlich. »Ja, durch ihn wird alles
plötzlich zur nüchternen Realität. Die Frage ist, was
werden Sie jetzt anfangen?«
»Ich muß versuchen, nach London zu kommen.
Das ist alles, was ich momentan tun kann. Dieser sogenannte Professor
Soames ist schließlich meine einzige Spur.«
»Wird das nicht schwierig sein, nachdem jetzt Ihr Ausbruch bekannt ist?«
Er nickte grimmig. »Das kann man wohl sagen. Ich
hatte gehofft, daß sie nicht vor dem Frühstück meine
Flucht bemerken würden, aber irgend etwas muß schiefgegangen
sein. Ich hätte in aller Gemütlichkeit bereits in London sein
können, wenn alles gutgegangen wäre, und sie hätten mich
dann noch immer in Manningham gesucht!«
»Die Frage ist, wie wollen Sie nach London kommen?«
»Ja, das ist in der Tat die große Quizfrage: doppelt oder nichts!« erwiderte er böse.
Sie dachte angestrengt nach, und nach
einer Weile meinte sie: »Wissen Sie eigentlich, daß mein
Vater während des Krieges in Deutschland gefangen war?«
Brady nickte. »Er hat einige Male davon gesprochen.«
»Damals ist er dreimal ausgebrochen«,
erzählte sie. »Beim letztenmal kam er quer durch
Deutschland, Frankreich und die Pyrenäen. Er sagte immer, das
Wichtigste, was man stets beachten müsse, sei, die großen
Straßen zu meiden und doch auf dem schnellsten Weg dorthin zu
gelangen suchen, wohin man will!«
»Eine hübsche Theorie«, erwiderte
Brady. »Aber in der Praxis ist das schon etwas schwieriger. Da
fährt zum Beispiel der Nachtexpreß nach London, aber den zu
besteigen habe ich ebensoviel Chancen wie in Fort Knox einzubrechen, wo
das amerikanische Gold liegt!«
»Ich fahre selbst heute nacht noch nach
London«, meinte sie unbeeindruckt. »Ich habe eine
Schlafwagenkarte gelöst. Die anderen von unserer Show sind schon
heute morgen gefahren, aber ich wollte vor meiner Abreise noch einige
Bekannte treffen, die zwölf Meilen von der Stadt entfernt wohnen.
Ich habe den Tag dort bei ihnen verbracht.«
»Dann ist die Show also abgesetzt?«
»Ja. Ich glaube, wir sind durchgefallen.«
Sie machte plötzlich ein nachdenkliches Gesicht. »Warten Sie
mal, mir kommt da gerade eine Idee! Ich habe im Schlafwagen eine
Einzelkabine gelöst. Ich hasse es nämlich, mit Fremden
zusammen zu reisen; deshalb habe ich lieber etwas mehr Geld ausgegeben.
Wenn wir Sie irgendwie in den Zug bekämen, könnten Sie in
meinem Abteil mit nach London fahren.«
»Das wird kaum möglich sein«,
antwortete er. »Der Bahnhof wird von Polizisten wimmeln. Die
Züge zu überwachen, ist immer ihr erster Schritt. Ich
würde niemals durch die Sperre kommen.«
»Meinem Vater ist es einmal
gelungen, durch das Haupttor eines deutschen Gefangenenlagers
hinauszuspazieren! Er schaute so vertrauenerweckend aus, daß sie
ihn nicht einmal gefragt haben.«
Er sah sie verblüfft an. »Das verstehe ich nicht.«
»Er trug eine deutsche Uniform.«
»Aha. Und was nützt mir das?«
»Aber das ist doch ganz einfach«,
erklärte sie ihm. »Wer, glauben Sie, würde wohl
über einen Gepäckträger einen einzigen Gedanken
verlieren, der einer Dame ihr Gepäck in den Zug trägt? Er
bringt es in ihr Abteil und bleibt dann dort. Das ist doch so einfach
wie nur möglich!«
»Ja, die Schwierigkeit besteht zunächst nur
darin, woher ich die Gepäckträgeruniform bekomme.«
Sie lachte und sprang auf die Füße.
»Sie vergessen eben, daß wir in einem Theater sind.«
Er folgte ihr in den Seitenflügel, sie
öffnete die Tür zum Fundus, drehte das Licht an und begann
hastig in einem großen Korb voller Kostüme zu wühlen.
Nach einigen Augenblicken drehte sie sich triumphierend um und schob ihm eine Schirmmütze zu.
»Das ist der Anfang.«
Auf dem weißen Metallschild stand die
Bezeichnung »Britische Eisenbahnen«; es war eine echte
Gepäckträgermütze. Brady setzte sie auf und betrachtete
sich dann im Spiegel. Sie war zwar einige Nummern zu groß, aber
unterdessen kam Anne schon wieder an und reichte ihm einen dunklen
Leinenanzug mit glänzenden Uniformknöpfen, den sie über
dem Arm hängen hatte.
»Das Problem ist gelöst«, rief sie
dabei mit lustigem, angeregtem Gesicht. Einen Moment lang sah sie dabei
wie ein Kind aus, das gerade ein neues und aufregendes Spiel
kennengelernt hatte.
Mit ernstem Gesicht drehte
Weitere Kostenlose Bücher