Der gehetzte Amerikaner
Halle war kalt und düster. Alle Kioske hatten
schon geschlossen, nur der Wartesaal war noch geöffnet. Eine
erstaunlich große Menschenmenge hatte sich in der riesigen
gewölbten Halle angesammelt und wartete auf die verschiedenen
Züge.
An der Sperre standen zwei Polizeiwachtmeister und
musterten jeden, der hindurchging. Anne hielt ihre Fahrkarte schon
bereit, und während der Schaffner die Karte lochte, gab es nur
einen ganz kurzen Aufenthalt. Dann war sie hindurch, und Brady folgte
ihr unmittelbar mit den Koffern.
Der Zug stand schon abfahrbereit auf dem Bahnsteig.
Eine weiße Dampfwolke quoll zwischen den Rädern der
Lokomotive hervor. Die Schlafwagen befanden sich am anderen Ende des
Zuges. Bradys Hände waren feucht von Schweiß, sein Mund war
wie ausgetrocknet.
Der junge Polizeibeamte, der wie zufällig neben
der Wagentür stand, war schon sehr müde. Während Anne an
ihm vorbei einstieg, riß er seinen Mund zu einem Gähnen weit
auf und hob nachlässig die Hand.
Anne wies ihre Fahrkarte dem Schlafwagenschaffner vor,
der in seinem winzigen Coupé stand, und die Nummern rasch mit
seiner Karte verglich.
»Sie haben das erste Abteil im nächsten
Wagen, Miss Dunning. Nummer zwölf. Wünschen Sie morgen
Frühstück oder nur Tee?«
Sie schüttelte den Kopf. »Danke, ich werde
später frühstücken, irgendwo in der Stadt.«
Er reichte ihr die Karte zurück und
lächelte. »Wir fahren um sieben Uhr in King's Cross ein,
aber Sie brauchen den Zug nicht vor acht zu verlassen!«
Als ein weiterer Fahrgast einstieg, ging Anne schnell
den Gang entlang, und Brady folgte ihr wiederum. Über die
Brücke schritten sie hinüber in den nächsten Wagen.
Dieser war noch ruhig und leer; Anne zog rasch die Tür ihres
Abteils auf und trat ein.
Brady stellte den Koffer hin, nahm seine Mütze ab
und lehnte sich gegen die Tür. Auch seine Stirn war
schweißbedeckt, und er stieß einen leisen Pfiff aus.
»Donnerwetter, das möchte ich nicht noch einmal
mitmachen.«
Auch ihre Augen leuchteten vor Erregung. Sie warf ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an sich.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es klappen würde.«
Er hielt sie fest in seinen Armen und spürte
plötzlich voller Freude ihren warmen Körper. Er war jung und
voller Lebenskraft, doch nach einem kurzen Augenblick befreite sie sich
sanft wieder aus seinem Griff.
»Wir sollten lieber beginnen, uns einen Plan
zurechtzulegen«, meinte sie leichthin und zog ihren Regenmantel
aus.
Das Abteil war eng und angefüllt mit
Gegenständen. An der einen Wand befand sich eine winzige
Schlafkoje und in der Ecke neben dem Fenster ein Waschbecken. Brady
setzte sich auf den Bettrand und steckte sich eine Zigarette an.
»Was soll ich tun, wenn jemand an die Tür klopft?«
Sie sah sich im Abteil um und lächelte dann.
»Ich schätze, Sie müssen unter das Bett kriechen. Es
bleibt uns wohl keine andere Wahl.«
»Und was geschieht, wenn wir in King's Cross ankommen?«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn wir
erst einmal durch die Sperre sind, steigen wir sofort in die U-Bahn.
Ich habe eine Wohnung in Kensington. Dort können wir in zwanzig
Minuten sein. Eigentlich teile ich mir die Wohnung mit einem anderen
Mädchen, aber sie tritt in dieser Woche bei einer Show in Glasgow
auf.«
»Und was ist mit meiner Uniform?«
»Das ist doch ganz einfach«, sagte sie.
»Wenn wir durch die Sperre gehen, trage ich meinen Mantel
über dem Arm, den Ihren darunter versteckt. Wenn wir dann zur
U-Bahn hinuntersteigen, können Sie in Ihren Mantel schlüpfen.
Zu dieser Zeit am frühen Morgen ist die U-Bahn stets
überfüllt. Selbst wenn Sie im Kopfstand durch London fahren
würden, nähme auch niemand Notiz von Ihnen.«
Brady mußte lachen. »Ich sehe, Sie haben alles schon ohne mich gut organisiert.«
»Na ja, einer muß doch an alles denken!«
Wahrend sie noch sprach, hatte sie bereits den
Reißverschluß ihres Kleides aufgezogen und streifte es sich
über den Kopf. Ohne sich im geringsten etwas dabei zu denken,
stand sie in Unterwäsche da und öffnete einen ihrer Koffer.
Sie holte einen rotseidenen Brokat-Morgenmantel heraus und zog ihn
über.
Während sie den Gürtel festband,
lächelte sie. »Das wird wohl für die Nacht
genügen.«
Brady nickte, und plötzlich war es ihm, als ob
sein Kopf zu schwer für seinen Körper sei. Er holte tief Atem
und machte eine Anstrengung, um sich aufzurichten, doch sie kniete
schon vor
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