Der gehetzte Amerikaner
vergangenen Sommer herauf, der
schon lange zurücklag und nur noch in der Erinnerung lebte.
Er glitt leicht von einer Melodie in die andere und
konzentrierte sich so auf sein Spielen, daß er alle Angst verlor.
Nach einer Weile schaute er auf und sah, daß Anne Dunning neben
ihm stand.
»Sie spielen sehr gut, Mr. Brady«, sagte sie.
»Das ist einer meiner wenigen
Vorzüge«, entgegnete er lächelnd. »Übrigens
können Sie mich Matt nennen.«
Auch sie mußte lächeln, wobei um ihre Augenwinkel ein paar verschmitzte Fältchen erschienen.
»Ich werde also jetzt Kaffee machen –
Matt! Und Sie können einstweilen die
Gepäckträger-Uniform anziehen. Ich habe sie auf dem Bett
ausgebreitet. Im ersten Zimmer rechts, oben im ersten Stock.«
Das Zimmer war ebenso altmodisch
eingerichtet wie die anderen des Hauses und enthielt ein großes
Messingbett und schwere viktorianische Möbel. Auf dem
Fußboden neben der Tür standen zwei Koffer, ein dritter lag
leer auf dem Bett, daneben die ausgebreitete Träger-Uniform.
Offensichtlich hatte Anne ihr Gepäck so eingeteilt, daß
für seinen Leinenanzug und Mantel noch Platz war.
Brady zog sich rasch um, trat dann vor den
großen Spiegel des Kleiderschranks und musterte sich. Ein Fremder
blickte ihm aus dem Spiegel entgegen. Die Uniform war, im Gegensatz zur
Mütze, eine Nummer zu klein und unter den Armen sehr eng, wahrend
die Mütze über die Augen rutschte und das Schild sein Gesicht
beschattete. Den alten Anzug und seinen Trenchcoat rollte er zusammen,
packte sie in den leeren dritten Koffer und trug diesen zusammen mit
den beiden anderen hinunter.
Anne war noch in der Küche; so trat er leise ein
und lehnte sich von ihr unbemerkt an den Türpfosten. Eine ganze
Weile stand er so; dann drehte sie sich plötzlich um und wollte
etwas holen, dabei erblickte sie ihn. Unwillkürlich stieß
sie einen kleinen Schrei aus und trat einen Schritt zurück, doch
dann brach sie in Lachen aus.
»Aber das ist ja großartig, Matt!«
rief sie. »Sie sind einfach nicht wiederzuerkennen!«
Er schob die Mütze auf den Hinterkopf und
schmunzelte. »Na, dann fällt mir ja ein Stein vom Herzen!
Wann rücken wir ab?«
Sie trug ein vollbeladenes Tablett ins Wohnzimmer, und er folgte ihr.
»Der Zug fährt kurz nach Mitternacht. Wir
können schon gleich nach elf Uhr einsteigen, aber ich denke, es
ist am besten, wenn wir erst ganz kurz vor Mitternacht hingehen.«
Er nickte zustimmend, während sie ihm eine Tasse Kaffee reichte.
»Das klingt vernünftig. Wie lange brauchen wir bis zum Bahnhof?«
Achselzuckend meinte sie : »Vielleicht zehn
Minuten – aber wenn wir die Seitenstraßen gehen, ein
bißchen länger. Wir kommen dann neben einem großen
Hotel heraus; vor uns liegt ein Platz, und auf der anderen Seite
befindet sich der Bahnhof.«
»Das ist recht günstig. Falls uns jemand
sieht, wie wir den Platz überqueren, wird er meinen, ich bringe
Ihr Gepäck vom Hotel in den Zug.«
Sie nickte. »Das habe ich mir auch so gedacht.«
Sie tranken noch eine Tasse Kaffee, und nach einer
Weile trug sie das Tablett wieder in die Küche zurück. Brady
steckte sich eine Zigarette an, lehnte sich im Sessel zurück und
versuchte, an nichts zu denken.
Nach etwa zehn Minuten kam sie zurück. Sie trug
jetzt einen Regenmantel und eine dunkle Baskenmütze. Er erhob sich
und lächelte.
»Kann es losgehen?«
Sie nickte zustimmend. »Ja. Wie fühlen Sie sich?«
»Ich habe völlig abgeschaltet«, meinte er. »Aber ich werde es schon überleben.«
Sie verließen das Haus durch einen
Hinterausgang, überquerten einen kleinen, dunklen Hof und kamen in
eine schmale Seitengasse. Der Regen hatte jetzt etwas nachgelassen.
Anne führte ihn zielbewußt durch mehrere Nebenstraßen.
Offensichtlich hatte sie sich den Weg genau überlegt.
Kein Mensch begegnete ihnen, und kaum fünfzehn
Minuten nach Verlassen des Hauses hatten sie bereits die Straße
erreicht, die auf den Bahnhofsvorplatz führte.
Brady spürte langsam das Gewicht der drei Koffer.
Neben dem Seiteneingang des Hotels blieb er stehen, um den Griff zu
wechseln, dann marschierte er hinter Anne her, quer über den
holprig gepflasterten Platz.
Ruhig, ohne Eile und völlig selbstbewußt schritt Anne voran.
Vor dem Haupteingang zum Bahnhof parkten drei Streifenwagen. Anne
schaute wie zufällig zu ihnen hinüber und ging dann unbeirrt
und ohne zu zögern in den Bahnhof hinein.
Die
Weitere Kostenlose Bücher