Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
außerhalb von Moral und menschlichen Regeln, mir scheint gar, dass unser verzweifelter Wunsch zu überleben uns tötet, lange bevor wir den letzten Atemzug getan haben. Ich habe nicht die Kraft, mich zu widersetzen. Aus mir wird immer mehr einer, für den ich nur Verachtung habe.
Meine allerschönste Galina, verzeih mir meine Schwäche und behalte mich so in Erinnerung, wie du mich zum letzten Mal gesehen hast: in diesem anderen Leben, auf der Bühne des Konservatoriums, die Geige spielend. Ich habe, seit ich dich kenne, immer nur für dich gespielt.
Man hat mir in der Lubjanka im Namen des Verhöroffiziers Antip Petrowitsch Kurasch zugesagt, dass du mit den Kindern unbehelligt in Moskau leben kannst, wenn ich ein Geständnis unterschreibe. Das habe ich getan, und ich hoffe, Kurasch hat wenigstens dieses Wort gehalten. Wenn du umsichtig mit unseren Rücklagen umgehst und weiter am Mchat-Theater spielst, kommt ihr sicher zurecht. Jetzt habe ich nur noch eine letzte Bitte an dich. Kurasch hat mir die Stradivari genommen. Seit fünf Generationen ist sie der Stolz der Grenkos, und es quält mich, dass ich es bin, der sie nun verloren geben soll. Ich bitte dich, geliebte Galina, versuche alles, um sie zurückzubekommen. Das letzte Flämmchen Leben in mir brennt in der Hoffnung, dass einer meiner Söhne die Stradivari spielen wird. Bitte Meschenow um Hilfe, richte ihm aus, dass es mein letzter Wunsch ist, dass er Pawel und Ossip unterrichtet.
Es ist mir nicht erlaubt, Briefe zu schreiben, aber Sergei Sergejewitsch Domorow wird dafür sorgen, dass dich diese Zeilen erreichen.
Ich liebe dich wie am ersten Tag. Küsse die Kinder von mir, sag ihnen, sie sollen nicht schlecht von mir denken. Ich habe mein Möglichstes getan.
Dein Ilja
Sascha legte das Schriftstück beiseite und starrte zum Fenster hinaus. Eine der Kellnerinnen legte draußen karierte Wachstischtücher auf und öffnete schon die ersten Sonnenschirme. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte ihm verlegen zu. Ein Spatz landete neben einem der Mülleimer und pickte eifrig an Speiseresten auf einer Waschbetonplatte.
Deduschka Ilja war im Arbeitslager gewesen. Warum hatte er das nicht gewusst? Hatten sie es ihm erzählt und er hatte es vergessen? Nein, das hätte er sicher nicht vergessen.
Und hier war auch der Auftrag, den Vika wohl als den ihren verstanden hatte. Ich bitte dich, geliebte Galina, versuche alles, um sie zurückzubekommen.
Auch der Vater hatte über einen Anwalt versucht, an die Geige zu kommen. Vierzehn Tage vor dem Unfall.
Sascha schluckte.
In seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing, klingelte das Handy. Auf dem Display erschien »Büro Reger«.
»Wo stecken Sie, Grenko?«, tönte die ruhige Bassstimme Jürgen Regers, kaum dass er das Gespräch angenommen hatte.
Sascha zögerte. »In einer Raststätte in der Nähe von Ingolstadt.«
»Was ist passiert?« Es war wohl eines von Regers Erfolgsrezepten, dass er seinem Gesprächspartner immer das Gefühl gab, man müsse ihm das Problem nur schildern, dann wäre es schon halb gelöst. Sascha sah den leicht übergewichtigen Mittfünfziger mit der Glatze hinter seinem Schreibtisch sitzen, immer einen Tee in feinster Porzellantasse vor sich.
»War die Polizei da?«, fragte Sascha.
Reger brummte unwillig.
Sie hatten ihn also bereits identifiziert.
»Das ist eine komplizierte Geschichte«, versuchte er einen Anfang zu finden. »Meine Schwester ist gestern vor meinen Augen erschossen worden.«
»Ihre Schwester?« Jürgen Reger klang erstaunt, und das kam nicht oft vor.
»Ja. Vika Freimann war meine Schwester. Aber das ist eine andere Geschichte. Es geht um unsere Eltern, oder besser, um unsere Großeltern.«
Er erzählte Reger, was in München passiert war und was er anhand der Unterlagen herausgefunden hatte. Reger unterbrach ihn nicht. Erst als Sascha geendet hatte, räusperte er sich und sagte: »Das klingt, als wäre die Polizei nicht unbedingt Ihr größtes Problem.«
Sascha schluckte. »Könnte sein, aber … ich glaube, bisher wissen die nichts von mir.«
»Stimmt, und wenn Sie die Finger davon lassen, könnte das vielleicht auch so bleiben.« Reger legte eine kleine Pause ein, wartete. Dann fragte er: »Lassen Sie die Finger davon?«
»Ich muss nach Kasachstan«, antwortete Sascha mit plötzlicher Gewissheit. »Ich muss mit meinem Onkel sprechen. Vielleicht lebt er noch in dem Dorf, in dem wir damals gewohnt haben. Hören Sie, ich bräuchte dringend eine Software aus dem
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