Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Kindern.«
»Die Brut nimmst du mit.«
Sie hielten ihr ein Papier vors Gesicht. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
… Entzug der Bürgerrechte … Eigentum des Ilja Wassiljewitsch Grenko dem Volkseigentum zuzuführen … Ehefrau und Kinder zu verbannen.
»Karaganda«, las sie. Noch nie hatte sie von Karaganda gehört.
Der Mann steckte das Papier wieder ein. »Zwanzig Minuten«, sagte er.
Sie stolperte ins Kinderzimmer, zog Pawel und Ossip an, raffte Kinderkleidung zusammen. Immer stand einer der Beamten neben ihr. Im Schlafzimmer nahm sie allen Mut zusammen. Sie zog eine Reisetasche vom Schrank, holte den BH und das Unterhöschen mit roter Spitze, das Ilja ihr aus Frankreich mitgebracht hatte, aus der Schublade und legte beides aufs Bett. Es funktionierte. Der Mann ging näher heran, war mit der Wäsche beschäftigt. Den Augenblick nutzte sie, um die Fotos und Zeitungsartikel, die sie am Tag zuvor zurechtgelegt hatte, zuunterst in die Reisetasche zu schieben. Als sie zum Schrank ging, sah sie, wie der Beamte die Unterwäsche in seine Jackentasche steckte. Sie legte einige Kleidungsstücke von sich in die Tasche, packte die Kinderkleidung obenauf.
Den weiten Rock und einen Pullover zog sie an, und als sie gehen wollte, hielt sie noch einmal inne und nahm ihren Wintermantel aus dem Schrank. Auch das, so schien es ihr später, war wohl göttliche Eingebung.
Man brachte sie direkt zum Bahnhof. In dem Waggon mit den schmalen Holzbänken saßen bereits fünf Personen. An den Fenstern waren Bretter angebracht, nur oben hatte man einen Schlitz gelassen, durch den ein wenig erstes Tageslicht hereinfiel.
Der Wagen stand den ganzen Tag im Bahnhof, und immer wieder wurden neue Menschen hineingestoßen, die sich ängstlich umsahen. Einmal kamen zwei Soldaten, verteilten Brot und mit einer Kelle Wasser aus einem Eimer. Einige hatten Becher dabei, ließen ihn füllen und konnten sich so die kostbare Flüssigkeit einteilen. Galina trank aus der Kelle, drängte Pawel, so viel zu trinken, wie er konnte, und flößte Ossip Wasser ein, bis er hustete. Dann weinte sie, kam sich dumm vor, weil sie an so wesentliche Dinge wie einen Becher nicht gedacht hatte.
Schon in den ersten Tagen ließ sie mit jedem Kilometer, mit jedem Ratata – Ratata – Ratata unter ihrem Körper, Vergangenheit und Hoffnungen zurück, entfernte sich von ihrem alten Leben und war ausschließlich mit der Angst um ihre Kinder beschäftigt.
Die Erinnerungen an den Transport kehrten nie ganz wieder. Verschwommene Bilder, in den Tiefen ihres Gedächtnisses versteckt, und erst als die Söhne erwachsen waren, sprach sie manchmal im Flüsterton davon.
Dass es mehrere Wochen gedauert hatte und dass der Zug auf freier Strecke hielt und sie hinausgetrieben wurden, um ihre Notdurft auf offenen Feldern zu verrichten. Dass Durst und Hunger unerträglich waren und dass einmal eine alte Frau Pawel das Stückchen Brot aus der Hand riss, es sich in den Mund stopfte und weinte. Dass sie an kleinen Bahnhöfen, wo der Zug oft mehrere Tage stand, aussteigen durften, dünne Suppe und eingesalzenen Fisch bekamen und dass ein Bauer Pawel einen Apfel schenkte, mit dem er sich hinter einen Baum verkroch wie ein kleines Tier und die Frucht mit Stumpf und Stiel aufaß. Dass im Abteil eine junge Mutter war, der in den ersten Tagen der Säugling starb, und dass Ossip ohne diese Frau, die ihn, solange es ging, mit ihrer Milch versorgte, niemals überlebt hätte.
Und die Aufseher. Dass die Aufseher sie und andere Frauen aus den Waggons zerrten und sie vergewaltigten. Immer und immer wieder. Aber das sprach sie nie aus, flüsterte nur: »Und dann kamen die Aufseher und holten uns, und dann …« Dass die vierzehnjährige Anna unter ihrem Peiniger verblutete und der auf die Tote einschlug, weil sie so eine Schweinerei hinterließ.
Auch von der Taubheit in ihrem Herzen erzählte sie, diese Bodenlosigkeit, wenn sie dachte, dass ihre Verbannung wohl der Beweis sei, dass Ilja tatsächlich geflohen war. Dass er sie und die Kinder im Stich gelassen hatte.
Als sie in der kasachischen Steppe ankamen, hatten die Kinder hohes Fieber, und auch sie war am Ende ihrer Kräfte. Auf der Kommandantur in Karaganda erhielt sie die Anweisung, einmal im Monat vorstellig zu werden. Sollte sie dieser Meldepflicht nicht nachkommen, würde aus der Verbannung eine Haftstrafe. Anschließend wurden sie in einen Raum gebracht, wo ein Arzt ihre Arbeitsfähigkeit überprüfte. Er schickte sie mit
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