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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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Seidenraupe war sie gewesen, seine Hoffnung, während er Gerschow gelauscht hatte. Ein kurzer, unerträglicher Augenblick, und sie war verloren. Während sie gruben, machten sich einige der Gefangenen an den Toten zu schaffen, zogen ihnen Jacken und Schuhe aus. Die Wachmannschaft ließ sie gewähren. Zum ersten Mal hörte Ilja das Wort »Urki«. Der Mann neben ihm sagte es. »Das sind die Schlimmsten, diese elenden Urki.« Er sprach mit deutschem Akzent.
    Ilja hielt inne und fragte: »Was meinen Sie?«
    »Grab weiter«, sagte der andere, »sonst werden die Wachen aufmerksam.«
    Sie stießen ihre Schaufeln, die völlig ungeeignet für diese Arbeit waren, in den festen Boden. »Das sind Kriminelle«, sagte der Mann, »Diebe, Mörder, Verbrecher aller Art.« Er lachte bitter. »Wirst es schon noch erleben. Sie sind die wahren Herren in den Lagern.« Er sah Ilja mit einer steilen Falte über der Nasenwurzel misstrauisch an. »Du kommst doch auch aus der Lubjanka, du musst doch …«, dann schluckte er und fragte: »Einzelhaft? Mit Schlafentzug?«
    Ilja zögerte. Auch diese Worte waren ihm neu, aber er wusste sofort, dass es die richtigen waren. Er nickte und war dem Fremden fast dankbar. Die vergangenen Wochen, in denen er meinte, seinen Verstand zu verlieren, hatten jetzt einen Namen.
    »Wie lange?«, fragte der Deutsche.
    Ilja zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht genau. Ungefähr sechs Wochen«, sagte er.
    Der Mann sah erstaunt auf. Mit seinem harten Akzent sagte er: »Die meisten werden verrückt, drehen nach spätestens drei Wochen einfach durch.«
    Er nickte anerkennend, und Ilja dachte, vielleicht bin ich das ja auch. Vielleicht ist das hier alles nicht wirklich und ich lebe in einem Alptraum.
    Sechzehn. Er zählte sechzehn Tote, und als er sah, wie zwei Männer Gerschow in die Grube warfen, wusste er, dass er nicht verrückt war.
    Sie schaufelten die Erde über die Leiber, und mit jeder Schaufelladung vergrub er auch sein Menschenbild. Den leeren Platz in seinem Innern nahm etwas Neues ein, etwas Ungeheuerliches, das ihn schreckte und von dem er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, dass es seine Vorstellungen von sich selbst, von der Zivilisation und Menschenwürde unumkehrlich verändern würde. Die Sonne stand bereits über dem Birkenwald, tauchte alles in sommerliches Licht und brannte die Bilder der weggeworfenen Leiber in sein Gedächtnis.
    Und immer wieder Gerschows baumelnder Kopf.
    Er sah, wie einige der Urki mit den Wachmännern verhandelten, sah, wie Jacken, Schuhe und Hosen gegen Brot getauscht wurden.
    Die Wachmannschaft war mit dem Vormittag zufrieden und zeigte sich großzügig. Der Zug sollte erst am späten Abend weiterfahren, und man erlaubte ihnen, sich bis zur Abenddämmerung auf einem Abschnitt des Feldes aufzuhalten. Wasser und Brot wurde verteilt. Ilja legte sich, die Arme und Beine ausgestreckt und frei atmend, auf das von Unkraut übersäte Feld. Erschöpft schlief er zum ersten Mal nach Wochen mehrere Stunden tief und fest.

    Von einer Sekunde zur nächsten war er hellwach. Zunächst meinte er, den Schuss vom Morgen noch einmal geträumt zu haben, aber dann sah er, dass die anderen Häftlinge aufstanden und in Richtung Birkenwald blickten. Die Sonne stand orange und rund im Westen. Zwei Wachleute liefen auf den Wald zu, die Gewehre im Anschlag. Ilja sah sich nach dem Deutschen um, stellte sich neben ihn. »Was ist passiert?«
    »Einer ist abgehauen«, sagte er und schüttelte den Kopf. Wieder hallten Schüsse. Wenig später kamen die beiden Verfolger zurück. Einer trug eine Jacke über dem Arm, der andere hielt ein Paar Schuhe in Händen.
    Sie wurden zurück in die Waggons getrieben. »Ihr verdammten Schweine«, schimpfte der Wachmann, als er Ilja den Gewehrkolben in den Rücken schlug und ihn vorwärtsstieß. »Da will man euch einen Gefallen tun, und ihr dankt es so.«
    Der Gestank im Wagen bereitete ihm sofort Übelkeit. Er ließ sich nicht in die hintere Ecke drängen, robbte auf die andere Seite, suchte sich einen Platz mit einer Ritze in der Wand, die ein wenig frische Luft versprach. Andere versuchten ihn zu verdrängen. Er trat nach ihnen, spürte, wie er seine Zähne aufeinanderbiss, bereit war zu kämpfen. Ein unerklärlicher Lebenswille gepaart mit einer unbändigen Wut gaben ihm Kraft. Als der Zug sich endlich in Bewegung setzte und er die kühle Abendluft auf dem Gesicht spürte, die durch den schmalen Spalt hereinströmte, fühlte er keine Scham. Er dachte nicht zurück und

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